Ostfildern: Kommunalreform war „bittere Pille“ – Erstes gemeinsames Projekt war die Halle in Nellingen – Einwohnerzahl wächst
Seit dem 1. Januar 1975 besteht die Stadt Ostfildern. Der Zusammenschluss der Orte Nellingen, Ruit, Kemnat und Scharnhausen ist ein typisches Konstrukt der Kreisgebiets- und Gemeindereform auf den Fildern – ebenso wie die Städte Leinfelden-Echterdingen und Filderstadt.
Der Start des jungen urbanen Gebildes war ein wenig holprig, denn die vier Teilorte waren von denkbar unterschiedlichem Charakter: Nellingen war eher städtisch geprägt und nach Esslingen orientiert. Schließlich hatte der Ort zum Oberamt Esslingen gehört, während Ruit, Kemnat und Scharnhausen vom Oberamt Stuttgart verwaltet wurden. Durch die Reform sollten die Filder verwaltungsmäßig neu geordnet werden. Denkendorf und Neuhausen, zuvor auch als Reformkandidaten gehandelt, behielten ihre Selbstständigkeit. Bei der Reform wurde geografisch vorgegangen: Nellingen, Ruit, Scharnhausen und Kemnat saßen im Osten der Filder, Filderstadt in der Mitte und Leinfelden-Echterdingen im westlichen Teil. Auch Berkheim hatte zu den Spielfiguren einer Neuordnung gehört.
Begeisterung hat die Reform nirgendwo ausgelöst. „Da war von Wehmut im Herzen die Rede, von der bitteren Pille, die man schlucken müsse“, wie Jochen Bender, der Archivar der Stadt, recherchiert hat. Doch was war die Alternative zur Fusion? Über allem schwebte das Schreckgespenst, von Stuttgart oder Esslingen geschluckt zu werden. Da war die „Ostfilderstadt“ das kleinere Übel, obgleich es wenig Verbindendes gab. Um Gemeinsamkeit herzustellen, bemühte man die Archive – und wurde fündig: Es hatten Kemnat, Nellingen, Ruit und Scharnhausen im Jahr 1800 tatsächlich gemeinschaftlich ihre erste Feuerspritze angeschafft.
„Ostfilder“ hieß zunächst der Arbeitstitel für das künftige Konstrukt, Vorschläge für einen Namen sollten eingebracht werden: „Schakerune“ und „Kemrunellhausen“ – aus den Anfangsbuchstaben der Gemeindenamen gebildet – waren solche Vorschläge, auch „Sauerkrauthausen“, „Fildervierling“, „Elfkirchen“ oder „Helikopta“. Letztlich blieb es bei Ostfilder, wobei der Volkskundler Helmut Dölker riet, den Buchstaben n anzuhängen, um den Namen in den Dativ zu setzen und ihm damit Ortscharakter zu geben – auf den Ostfildern sollte das bedeuten.
Der Start war eher traurig, wie Jochen Bender festgestellt hat: „Als Amtsverweser Richard Schall die erste Gemeinderatssitzung am 2. Januar 1975 einberief, war das fast wie eine Trauerveranstaltung. Alle dachten an den Verlust der Selbstständigkeit und auch an die viele Arbeit.“ Zum ersten Bürgermeister der damaligen Gemeinde Ostfildern wurde Gerhard Koch gewählt, zuvor Bürgermeister von Scharnhausen. Vom 1. Juli 1976 an war er Oberbürgermeister, als Ostfildern den Status einer großen Kreisstadt erhielt.
In jedem Stadtteil gab es in den ersten Jahren Bezirksverwaltungen, die als Anlaufstellen vor Ort galten. Es gab viel zu tun, zum Beispiel die doppelten Straßennamen aufzulösen. Es galt, aus vier Gemeinden eine Einheit entstehen zu lassen und das bei einem unnatürlichen Hindernis mitten in der neuen Stadt: den 140 Hektar großen Nellingen-Barracks. Gerhard Koch und sein Stellvertreter Herbert Rösch setzten auf die Kultur als einigendes Element. „Man sah gerade in der Kultur eine große Chance zur Integration der Bürger über die Stadtteile hinweg“, sagt Bender.
Unter diesem Motto stand auch das erste Stadtfest 1976: „Lernen Sie Ihre Nachbarn kennen, besuchen Sie die anderen Stadtteile“, lautete die Aufforderung, an den über ganz Ostfildern verstreuten Veranstaltungen teilzunehmen. Das erste gemeinsame große Projekt der jungen Stadt war der Umbau der Endhaltestelle zur Halle in Nellingen, das erste Kulturzentrum der Stadt mit Sitz der VHS und der Musikschule. Ein Sinnbild für das Zusammenwachsen vier verschiedener Orte sollten auch die Kunstwerke von Sol LeWitt sein, die an den Stadtteileingängen stehen und die nach ihrem Aufstellen in den 90er-Jahren heftig kritisiert wurden.
Heute ist von den anfänglichen Fremdeleien nicht mehr viel zu spüren, obgleich die Stadtteile ihr eigenes Gesicht behalten haben. „Während die Schüler von Ruit und Scharnhausen nach Nellingen zu den weiterführenden Schulen gehen, zieht es die Kemnater Schüler stärker nach Sillenbuch, so wie früher auch“, sagt Bender. Auch die Finanzämter ziehen alte Grenzen. Kemnater gehören zum Stuttgarter Finanzamt.
Ein Meilenstein in der Stadtgeschichte war die Entwicklung des Scharnhauser Parks als neuer Stadtteil in der Mitte Ostfilderns und die damit verbundene Verlängerung der Stadtbahn nach Nellingen über Kemnat, Ruit und den Scharnhauser Park.
Im Rückblick hat sich die „bittere Pille“ als Vitaminpräparat herausgestellt, wie Bender bilanziert: Hatte Ostfildern zu seiner Geburtsstunde im Jahr 1975 rund 28 000 Einwohner, sind es heute 38 500 – Tendenz steigend: Laut Bender wächst Ostfildern um rund 50 Einwohner pro Monat – eine Stadt, die anzieht. bob