Aus für die Wirtschaftshilfe

Das Paradies für Bedürftige und Sammler in der Esslinger Altstadt ist bald Geschichte

Seit mehr als 70 Jahren hat die Stadt Esslingen eine „eigene Verkaufsstelle für Gebrauchswaren“. Damit ist sie wohl die einzige Kommune in Deutschland, die sich diesen Luxus leistet – noch. Denn die Stadt wird den Eigenbetrieb mit Ablauf des Jahres 2022 einstellen. Nach dem Betriebsausschuss hat auch der Gemeinderat die Entscheidung in seiner Sitzung in der Woche vor Weihnachten gebilligt.
„Diese Entscheidung ist nicht spontan gefallen, es war immer wieder im Gespräch und auf der Tagesordnung“, betont Finanzbürgermeister Ingo Rust. Fünf Jahre in Folge steckt der Betrieb in den roten Zahlen, für das kommende Jahr wird ein Defizit von 40 000 Euro erwartet. „So wichtig die Einrichtung lange war, dieses Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr und ist auf Dauer wirtschaftlich nicht tragbar“, sagt Rust über die Gründe. Dabei habe die städtische Wirtschaftshilfe nie angestrebt, Gewinne zu machen. „Ziel war und ist es, kostendeckend zu arbeiten“, so der Finanzbürgermeister.
Ende Dezember 2022 geht zudem der Leiter der Wirtschaftshilfe, Michael Jakob, in den Ruhestand. Vor 31 Jahren wurde er vom Rechnungsprüfungsamt hierher abbestellt und ist längst zu einer Institution geworden. „Das stellt eine echte Zäsur dar, denn er ist hier Herz und Seele. Die Wirtschaftshilfe lebt von seinem Engagement“, lobt Rust. Jakob habe sich immer wieder neue Modelle und Verkaufsideen überlegt, die jeweils einige Jahre auch gut liefen. So hat er etwa zusammen mit einem Fellbacher Händler Rücksendungen des Otto-Versandhandels weiterverkauft und war damit eine Art Vorreiter des Fabrikverkaufs. Doch irgendwann folgten die Firmen mit ihren großen Outlets. Bis zur Änderung des Gewährleistungsrechts vor gut zehn Jahren hatte Jakob auch viele Waren bei Ebay versteigert. Inzwischen bietet er nur noch sehr wenige Einzelteile über die Kleinanzeigen an.
Zu einem neuen Betätigungsfeld wurden dann die Haushaltsauflösungen, die bis heute sehr gut laufen. Die Wirtschaftshilfe wurde zum Profiteur des demografischen Wandels. Sie bietet einen Rundumservice an: Alles wird entrümpelt. Was von Wert ist, wird im Kaufhaus angeboten.
Corona sei ausdrücklich nicht der Grund für das Ende des Betriebs, sagt Ingo Rust. Auch wenn die Pandemie die Wirtschaftshilfe ebenfalls hart getroffen hat. Über sechs Monate war der Laden geschlossen. „Es hat für viel Frust gesorgt“, sagt Jakob. Die Verkäufer seien enttäuscht gewesen, weil sie ihre Sachen nicht los wurden und seien oft nicht mehr wiedergekommen. Im Ladengeschäft in der Sirnauer Straße 7 sei die 2-G-Regel eine Hürde. „Waren es früher 300 Kunden am Tag, kommen jetzt vielleicht noch 150“, berichtet der Leiter.
Die Wirtschaftshilfe war nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen worden, um dem florierenden Schwarzmarkt und dem Tauschhandel die Grundlage zu nehmen. Die raren Waren sollten nicht in dunklen Kanälen verschwinden, sondern ordentlich bezahlt und versteuert ihren Besitzer wechseln. Bis zur Wiedervereinigung war Esslingen die einzige Kommune, die sich einen solchen Gebrauchtwarenladen weiter leistete. Sozialkaufhäuser gab es auch in der ehemaligen DDR viele. Ob sie aber überdauert haben, habe er nie recherchiert, sagt Jakob. Historisch bedingt ist die Wirtschaftshilfe zwar bis heute im Finanzdezernat der Stadt angesiedelt, versteht sich aber doch als eine zutiefst soziale Einrichtung. Das gilt für das Sortiment, bei dem neben Schnäppchen auch echte Raritäten dabei sein können. Und es stimmt erst recht für die Mitarbeiter. So beschäftigt die Einrichtung auch Menschen, die aus dem normalen Arbeitsprozess herausgefallen sind. Mitunter kommen hier auch junge Leute zum Einsatz, die von der Bewährungs- oder der Jugendgerichtshilfe zu Arbeitsstunden verurteilt wurden.
Der Betrieb soll im nächsten Jahr normal weiterlaufen. „Aber mindestens zwei Monate vor dem Ende wird es einen ordentlichen Schlussverkauf geben“, verspricht Jakob.

pep / Foto: Roberto Bulgrin


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