D’ Blues Brothers vo’ d’r Alb

Esslinger Landesbühne stellt Saison 2023/224 vor – Friedrich Schirmer geht im Sommer 2024 in den Ruhestand

Leise Wehmut, stille Dramatik waren eher zu ahnen als zu spüren. Friedrich Schirmer, 71 Jahre alt und mit Marcus Grube Intendant der Esslinger Landesbühne (WLB), hat den letzten Spielplan seiner Karriere vorgestellt, den der WLB-Saison 2023/2024. Der große Theatermann, dessen Weg von Esslingen über die großen Häuser in Freiburg und Stuttgart ans größte deutsche Schauspielhaus in Hamburg und wieder zurück nach Esslingen führte, geht im Sommer 2024 in den Ruhestand. Marcus Grube bleibt alleiniger WLB-Chef.
Im neuen WLB-Spielplan gibt es eine typisch Schirmer-Grube’sche Ausgrabung: die Uraufführung „Der Unheimliche“ des deutsch-britischen Schriftstellers Robert Muller, bekannt vor allem als Drehbuchautor („Die Gentlemen bitten zur Kasse“). In dem Stück von 1997 kehrt ein Emigrant jüdischer Abstammung nach 50 Jahren in seine Heimatstadt Hamburg zurück, wo ihn die Wiederkehr der verdrängten Nazi-Vergangenheit in die tiefste Lebenskrise stürzt: zu brisant offenbar fürs Hamburger Thalia Theater, das das Stück in Auftrag gegeben, aber nicht aufgeführt hatte.
Leid- und Leitmotive der kritisch zu betrachtenden deutschen Geschichte ziehen sich durch den Spielplan. Etwa in „Heimatlos auf hoher See“ über die Odyssee des HAPAG-Dampfers „St.Louis“ mit jüdischen Emigranten an Bord, die weder in Kuba noch in den USA an Land gelassen wurden – bittere Bezüge zur Gegenwart liegen auf der Hand. Oder in „Berlin Alexanderplatz“, einem Seismogramm der späten Weimarer Republik mit bereits merklichem Hakenkreuz-Beben. Einen viel weiteren historischen Bogen seit den Bauernkriegen schlägt die „Proletenpassion“: Geschichte von unten im rebellischen Stil der 1970er-Jahre, neu abgeklopft auf ihre Gegenwartstauglichkeit. Und nicht nur dazu spielt die Musik (von der Polit-Rockband Schmetterlinge), sondern auch zur Parodie einer Parodie: „Blues Brothers“ wird zum theatralischen Roadmovie vo’ d’r Alb, zur „provinziellen Sehnsucht nach dem American Dream“ (Grube).

Momo im Freilichttheater

Eine doppelt tödliche Diagnose gibt es in „Ruhe, hier stirbt Lothar!“. Letzte Dinge, letzte Fragen – auch eine Spielplankonstante der Schirmer-Grube-Ära – greift das Alzheimer-Drama „Der Vater“ mit Reinhold Ohngemach ebenso auf wie das Atomkatastrophen-Memento „Die Kinder“ oder der Drei-Figuren-Monolog „Niemand wartet auf dich“ und der Reflexion über die Möglichkeiten, Einfluss auf gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen zu nehmen.
An der Jungen WLB gibt es mit dem Mäusemusical „Anton“ eine andere Geschichte von unten, nämlich von unter dem Sofa aus der Perspektive der Mäuse. „Salon Salami“ vom gebürtigen Esslinger Benjamin Tienti handelt von einer toughen Zwölfjährigen im (aber-)witzigen Überlebenskampf für ihre prekäre Familie. Die Junge-WLB-Leiterin Laura Tetzlaff blickt als Regisseurin in „Und alles“ sowie „Der Elefant“ auf Klimakata­strophe und Depression, aber auch auf die Silberstreifen, die jugendlicher Mut an den düsteren Horizonten entdeckt. Und zum guten Schluss steht ein großer Utopist der deutschen Jugendliteratur auf dem Plan: Michael Ende mit „Momo“ als Freilichtstück für die ganze Familie.

Info: Die laufende WLB-Saison 2022/2023 verzeichnet nach einiger „Zurückhaltung in Esslingen im Herbst“, so Intendant Marcus Grube, und nach einer Corona-Delle in der Spielzeit zuvor eine Normalisierung mit 62 877 Besuchern bis März.  Bei den Gastspielen der WLB „war das Publikum sofort wieder da“, sagt Grube.

Premieren der Saison 2023/2024 an der WLB

Schauspielhaus
• Der Unheimliche von Robert Muller. Uraufführung. Regie: Mirjam Neidhart. 22. September.
• Die Blues Brothers – Ein Roadtrip through the Länd. Bühnenfassung von Andreas Kloos. Regie: Andreas Kloos. 7. Oktober.
• Der Vater von Florian Zeller. Regie: Christof Küster. 1. Dezember.
• Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin. Regie und Bühne: Alexander Müller-Elmau. 12. Januar 2024.
• Ruhe, hier stirbt Lothar von Ruth Toma nach dem gleichnamigen Film. Regie: Christine Gnann. 1. Februar 2024
• Proletenpassion von Heinz Rudolf Unger (Text) und Die Schmetterlinge (Musik). Regie: Klaus Hemmerle. 23. März 2024
• Heimatlos auf hoher See – Die Irrfahrt der St. Louis von Susanne Beck und Thomas Eifler. Uraufführung. Regie: Eva Lemaire. 15. Juni 2024.

Freilicht auf der Maille
• Momo nach dem Roman von Michael Ende. Familienstück. Regie, Bühne und Kostüme: Marcel Keller. 20. Juni 2024.

Podium 1 im Schauspielhaus
• Der Messias von Patrick Barlow unter Mitarbeit von Jude Kelly und Julian Hough. Regie, Bühne und Kostüme: Jan Müller. 24. September.
• Niemand wartet auf dich von Lot Vekemans. Regie: Catja Baumann. 18. November.
• Die Kinder von Lucy Kirkwood. Regie: Jenke Nordalm. 28. März 2024.

Junge WLB
• Salon Salami von Benjamin Tienti. Ab zehn Jahren. Regie, Bühne und Kostüme: Viva Schudt. 16. September, Podium 2 im Schauspielhaus.
• Anton – Das Mäusemusical von Gertrud Pigor, Thomas Pigor und Jan-Willem Fritsch. Ab fünf Jahren. Regie: Tobias Rott. 19. November, Schauspielhaus
• Und Alles von Gwendoline Soublin. Ab neun Jahren. Regie: Laura Tetzlaff. 27. Januar 2024, Podium 2.
• Der Elefant von Peter Carnavas. Ab sechs Jahren. Regie: Laura Tetzlaff. 16. März 2024, Studio am Blarerplatz.
• Mein innerer Elvis von Jana Scheerer. Ab zwölf Jahren. Regie: N. N. 24. März 2024, Podium 2.

mez / Foto: Roberto Bulgrin


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