In der Kulturszene grassiert ein massiver Besucherschwund – Vor allem kleinere Einrichtungen sind in Not

Ein Gespenst geht um in der Kulturszene – und ist natürlich unsichtbar: Es sind die nicht mehr vorhandenen Besucher. Betroffen sind alle Sparten und Genres: große Oper und kleiner Club, Kabarett und Konzert, Theater mit Menschen und Marionetten. Nur geht es bei den Kleinen eher um die Existenz. Die möglichen Gründe für den Publikumsschwund sind vielfältig: Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus; Entwöhnung von Live-Kultur durch lockdown-bedingte Massenmutation zu streamenden Couch-Potatoes; kein „Endlich vorbei“ nach der Pandemie, nur ein „Weiter so“ mit Endemie. Dank Wladimir Putin verbunden mit dem Angsttransfer zu apokalyptischen Atomkriegsszenarien und realistischen Energiepreisexplosionen.
Viele Ursachen, aber immer nur eine Wirkung, die Andreas Weiner vom Esslinger Literarischen Marionettentheater (Lima) unumwunden auf den Punkt bringt: „Die Besucherzahlen sind miserabel.“ Johannes Single vom Nürtinger Kulturclub Kuckucksei spricht von „massiven Einbrüchen“. Maren Weber vom Esslinger Kulturzentrum Dieselstraße rechnet im Vergleich mit der Zeit vor Corona mit 50 bis 70 Prozent weniger Publikum. Florian Pfirrmann von der Halle Reichenbach stellt fest: „Es kommen deutlich weniger Leute, und kaum jemand kauft noch im Vorverkauf.“ Aus Sorge, die Band spiele vor leerem Raum, wurden einzelne Konzerte sogar abgesagt. Ähnliches berichtet Maren Weber. Pfirrmann beschreibt die Situation als Teufelskreis: „Wir haben höhere Nebenkosten und teurere Gagen für die Künstler, weil die zwei Jahre lang nichts verdient haben. Also müssen wir die Eintrittspreise erhöhen. Aber auch die Leute müssen mehr aufs Geld schauen, also bleiben sie weg. Und wir nehmen nichts ein.“
In der vergleichsweise großen Esslinger Landesbühne (WLB) stellt sich das Phänomen als „verhaltener freier Kartenverkauf“ und trotz einiger Neuzugänge unterm Strich als Verlust von rund 20 Prozent der Abonnenten dar, sagt die Verwaltungsdirektorin Vera Antes. Wie bei allen Theatern überwiegen auch bei der WLB die reiferen Semester in der Abonnentenschaft. „Die Kündigungen wurden fast alle mit dem Alter begründet“, sagt Antes. Sie geht aber davon aus, dass auch die Coronapausen als Theaterentwöhnungseffekt der Auslöser waren. „Im April und Mai dieses Jahres hatten wir noch einige ausverkaufte Vorstellungen“, berichtet sie. Doch schon vor den Ferien bröckelte das scheinbar wiedererwachte Interesse. An der WLB deutet man das als Zeichen allgemeiner Verunsicherung.
Aus Sicht des Kuckucksei-Geschäftsführers Single haben die Corona-Lockdowns „die Leute konditioniert, sich daheim Netflix oder Youtube reinzuhauen; und das wirkt jetzt nach“. Nicht einmal eine prominente Band wie „Guru Guru“ ziehe noch: „Früher war da das Ei zweimal voll, jetzt im Mai kamen gerade noch 75 Leute.“ Etwas andere Erfahrungen machte Maren Weber: „Die großen Namen laufen noch gut, bei unbekannteren Künstlern läuft nur noch wenig.“ Doch auch die Dieselstraßen-Geschäftsführerin spricht von einem durch Corona antrainierten „Rückzug ins Private. Vorher ist man zu einem Konzert gegangen, jetzt ist man zufrieden mit dem Spieleabend zuhause.“
Jedenfalls ist die Situation vor und hinter der Bühne mindestens so dramatisch wie auf ihr – in der Realität, nicht als Schauspiel. „Das Finanzierungsgefüge gerät aus dem Lot. Wir werden nicht so weitermachen können wie bisher“, sagt Weber. Sie hofft auf finanzielle Unterstützung, sieht allerdings die Einrichtungen auch in der Pflicht, neue Publikumsgruppen zu erreichen. Andreas Weiner vom Lima kritisiert, dass die Rückzahlung von Coronahilfen die Lage zusätzlich erschwere. Wenig hilfreich sei auch die Umstellung der Landesförderung von Fest- auf Fehlbeträge gewesen: „Da während Corona nicht gespielt wurde, sind die Fehlbeträge natürlich niedriger.“ Derweil graust ihm vor der Gasrechnung. Pfirrmann hofft für die Halle auf das nächste Frühjahr („dann sieht man weiter“), Single ist diese Hoffnung fürs Kuckucksei fast schon abhandengekommen: „Wenn es so weitergeht, haben wir im nächsten Jahr ein gewaltiges Problem.“ Nur im oftmals totgesagten Kino herrscht offenbar wieder heile Welt: ein „zweiter Frühling“, sagt Tobias Mattl von Lochmann Filmtheaterbetriebe, Inhaberfirma der Traumpaläste in Esslingen und Nürtingen. „Wir haben das Gefühl, unsere Gäste wollen im Kino in eine andere Welt abtauchen. Das geht zu Hause nicht.“
mez / Foto: Max Kovalenko