Haecker-Preis geht an Rugiatu Neneh Turay aus Sierra Leone für ihren Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung

Als ein Merkmal der Friedensstadt Esslingen bezeichnet Esslingens Oberbürgermeister Jürgen Zieger die Tradition der Verleihung des Theodor-Haecker-Preises. Der Internationale Menschenrechtspreis für politischen Mut und Aufrichtigkeit wird trotz schwieriger Bedingungen auch dieses Jahr verliehen. Er geht an Rugiatu Neneh Turay aus Sierra Leone, eine Aktivistin im Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung. Der Ehrenpreis geht an das Jugendhaus Komma für die Durchführung der Anti-Rassismus-Wochen.
Die Preisverleihung findet am Samstag, 24. Oktober, 19 Uhr, im Neckar Forum in kleinem Rahmen statt. Preisträgerin Turay kann nicht persönlich dabei sein; ihre Ausreise aus Sierra Leone ist nicht möglich. Sie wird per Video zugeschaltet sein. Der Abend wird von Susanne Babila vom SWR moderiert, Redebeiträge kommen von OB Zieger und Christa Stolle, der Geschäftsführerin von Terre des Femmes. Die Regisseurin Beryl Magoko hält die Laudatio auf Turay; zunächst war die Schauspielerin Gudrun Landgrebe davor vorgesehen, sie musste jedoch absagen. Der Abend wird per Live-Stream im Internet übertragen.
Rugiatu Turay wird für ihr Engagement gegen weibliche Genitalverstümmelung ausgezeichnet. Das traditionelle Verfahren, das international Female Genital Mutilation (FGM) heißt, ist zwar in vielen Ländern Afrikas offiziell verboten, wird aber dennoch praktiziert. In Sierra Leone ist FGM noch erlaubt. Das Abschneiden der Klitoris und der Schamlippen und das Zunähen der Vagina soll weibliche Promiskuität unterbinden. Es herrscht die Vorstellung, dass nur beschnittene Mädchen „rein“ sind.
Junge Mädchen aus dem ländlichen Bereich sind vielfach Analphabeten, haben keine Ausbildung und erlangen nur durch eine Heirat wirtschaftliche Sicherheit und soziale Anerkennung. Mit dem grausamen Ritual, das lebenslange Schmerzen, schwere Infektionen bis hin zum Tod, Lustverlust und traumatische Belastungen zur Folge hat, werden die Mädchen in eine Geheimgesellschaft namens Bondo aufgenommen. Dort werden sie auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter vorbereitet.
Über all dem liegt ein Schweigegelübde; dieses Tabu macht die Auseinandersetzung mit der brutalen Praxis schwierig. Die Beschneiderinnen sind keine Ärzte oder medizinisch ausgebildete Personen, sondern Frauen, die mit Rasiermessern oder Glasscherben hantieren. Rugiatu Turay, die FGM selbst ausgesetzt war, hat erleben müssen, wie ihre Cousine an den Folgen der Prozedur starb. Sie kämpft gegen FGM – gegen erzwungene und freiwillige –, indem sie in den verschiedenen Communities ihres Landes und in Schulen aufklärt. Sie bildet junge Frauen wie Männer zu Jugendbotschaftern aus. Sie baut Schutzhäuser für Beschneidungsopfer und führt Aufklärungskampagnen über die Bondo-Kultur durch. Turay sagt: „Es geht nicht darum, die Tradition der Bondo-Gesellschaft abzuschaffen, wir müssen die Kultur unserer Heimat respektieren, dazu gehört auch das Bondo-System, aber mit einem alternativen, auch geheimen Übergangsritus ohne Beschneidung.“
Turay schult auch Beschneiderinnen in Workshops und Landwirtschaftskursen, damit sie mit Alternativen ihren Lebensunterhalt verdienen können. Von Befürwortern der rituellen Beschneidung wird Turay immer wieder bedroht und angegriffen. Der Preis ist mit 10 000 Euro dotiert; damit sollen weitere Schutzhäuser gebaut werden.
Die Esslinger Kulturmanagerin Dominique Caina wies darauf hin, dass FGM nicht nur ein Thema Afrikas oder Asiens sei, sondern auch viele Frauen in Europa betreffe. „Terre des Femmes schätzt, dass es in Deutschland rund 75 000 Frauen gibt, die beschnitten sind, und etwa 20 000, die von Beschneidung bedroht sind. Und unser Land ist darauf nicht vorbereitet.“
Der Haecker-Ehrenpreis geht an das Jugend- und Kulturhaus Komma für die Durchführung der Internationalen Wochen gegen Rassismus. Damit will die Jury zeigen, dass „der Einsatz für Rechte, Demokratie und Respekt direkt vor der Haustür beginnt“. Der Haecker-Preis wird von einem Veranstaltungsprogramm mit Filmen, Workshops und Diskussionen begleitet. bob / Foto: dpa
Info: Über das Programm informiert das Kulturamt tagesaktuell auf www.esslingen.de/haecker-programm.