Maschinenfabrik Esslingen wurde vor 175 Jahren gegründet – Das Traditionsunternehmen hat 5300 Lokomotiven gebaut und den Wohlstand der Region angeschoben

Da lässt König Wilhelm I. von Württemberg eine Eisenbahnstrecke bauen, die seine Oberamtsstadt Cannstatt mit dem Wengerterdorf Untertürkheim verbindet – und die erste Fahrt auf den noch jungfräulichen Schienen macht eine Lokomotive aus Philadelphia! Amerikanische Lokomotiven auf schwäbischen Schienen? Das entsprach nun gar nicht dem Selbstverständnis eines Königreichs im Jahr 1845, an der Schwelle des Industriezeitalters. Noch im selben Jahr schrieb die Staatsregierung ihrer Königlichen Hoheit die Gründung einer Fabrik aus, die Lokomotiven, Wagen, Weichen und Drehscheiben bauen sollte. Die Ausschreibung mündete in einen Wettlauf zwischen dem Münchener Eisenwerksbesitzer Joseph Anton Ritter von Maffei und dem Karlsruher Maschinenfabrikanten Emil Keßler.
Das Geschäft war lukrativ: Die königliche Staatsfinanzverwaltung lockte das junge Unternehmen mit dem Angebot eines kostenlosen Grundstücks nach Esslingen. Die Stadt, auf deren Schenkung die königliche Großzügigkeit beruhte, verpflichtete sich zudem, die Wasserkraft der am Neckar gelegenen Pliensaumühle bereitzustellen. Ein Staatsdarlehen in Höhe von 200 000 Gulden und die Zusicherung der Staatsbahn, 15 Jahre lang alle in Esslingen gefertigten Produkte abzunehmen, zeugten von vorausschauender Wirtschaftsförderung.
Emil Keßler machte das Rennen
Emil Keßler machte das Rennen, auch weil er zusicherte, in Esslingen ein eigenständiges Unternehmen betreiben zu wollen – und nicht, wie sein Münchener Konkurrent, lediglich ein Zweigwerk. Am 13. März 1846 unterzeichnete Keßler den Gründungsvertrag für die Maschinenfabrik Esslingen (ME), nicht ohne zuvor einen weiteren Kredit in Höhe von 300 000 Gulden aufgenommen zu haben.
Die Maschinenfabrik war, einmalig für ihre Zeit, nicht organisch aus einem Handwerksbetrieb herausgewachsen. Vielmehr wurde auf dem heutigen Esslinger Bahnhofsgelände vor 175 Jahren eine Anlage aus dem Boden gestampft, die vom ersten Tag ihrer Produktion an 500 Arbeiter und den zugehörigen Verwaltungsapparat beschäftigte.
Amerikanische Gene
Der fliegende Start sollte sich bezahlt machen. Schon ein dreiviertel Jahr nach der Gründung verließ der erste Eisenbahnwagen das Werksgelände. Die zugehörige Lokomotive, auf den Namen „Esslingen“ getauft, folgte ein knappes Jahr später. Ihre amerikanischen Gene, gute Kurvenläufigkeit gepaart mit einer hohe Kletterfähigkeit, waren unverkennbar. „Emil Keßler war gut im Abkupfern“, sagt Hans-Thomas Schäfer, der als Vorsitzender des Fördervereins zur Erhaltung von Lokomotiven der Maschinenfabrik Esslingen deren Erbe verwaltet. Die Arbeit Schäfers und seiner Mitstreiter ist umso verdienstvoller, als dass heute kaum noch etwas an das Unternehmen erinnert, das die Industrialisierung im Südwesten zwar nicht begründet, aber sprichwörtlich mit Volldampf auf die Schiene gesetzt hat.
„Die Bedeutung der Maschinenfabrik für die wirtschaftliche Entwicklung und das Bewusstsein der Region entspricht in etwa dem Stellenwert, den heute der Daimler-Konzern einnimmt“, sagt Schäfer. Die Mitarbeiter der Maschinenfabrik waren nicht nur hoch qualifiziert und gut bezahlt, sie genossen auch die sozialen Wohltaten des Unternehmens: Fabrikkrankenkasse, Unterstützungsfonds, Bibliothek und nicht zuletzt den Gesangsverein Vulkania.
Zur Jahrhundertwende gehörte die Maschinenfabrik Esslingen AG neben den Borsig-Werken in Berlin und Maffei in München zu den großen Lokomotivherstellern in Deutschland. In den 120 Jahren bis zur Einstellung des Lokomotiven- und Wagenbaus im Jahr 1966 haben 5300 Lokomotiven und 26 000 Wagen die Werkhallen in Esslingen verlassen. Unterm Strich fanden die Dampf-, Zahnrad-, Diesel- und Elektrolokomotiven und Triebwagen aus Esslinger Produktion Abnehmer in 35 Ländern in Europa und Übersee.
Die Esslinger Lokomotiven fuhren nicht nur auf den Schienen der Württembergischen Staatsbahn und später der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Bundesbahn. Von Beginn an hatten die Produkte „Made in Esslingen“ auch außerhalb der engen Staatsgrenzen ihre Abnehmer gefunden. In den Zeiten der deutschen Kleinstaaterei dampften Esslinger Lokomotiven in Hessen und Bayern, später wurden sie in Chile, Brasilien und Argentinien aufs Gleis gesetzt. Erst im Jahr 1963 wurde die letzte Dampflok der Königlich Württembergischen Staatsbahn aufs Abstellgleis geschoben – nach 44 Jahren und 2,8 Millionen zurückgelegten Kilometern. Bis in die 2000er Jahre hinein tat eine im Jahr 1966 ausgelieferte Zahnradlokomotive des Typs E 10 auf der Padangbahn in Sumatra Dienst. Die im Jahr 1909 erstmals auf die Gleise gehobene Baureihe C gilt heute noch als die formvollendetste Lokomotivenfamilie, die je unter Dampf gesetzt wurde. Nicht umsonst wird sie in Eisenbahnerkreisen als die „Schöne Württembergerin“ verehrt.
Bis der Maschinenfabrik Esslingen AG im Jahr 1968 endgültig das Totenglöckchen geläutet wurde, ist in den Esslinger Werkhallen so ziemlich alles gebaut worden, was sich aus Stahl gießen ließ. Dazu zählten Dampfschiffe, Dampfmaschinen, Turbinen, Kältemaschinen, Müllverbrennungsanlagen, Kunsteisbahnen und Elektrofahrzeuge ebenso wie Standseilbahnen, Straßenbahnen und Brückenanlagen.
Gepanzerte Rollenlager
Die seinerzeit längste Spannbetonbrücke der Welt über den Maracaibo-See in Nicaragua ruht auf gepanzerten Rollenlagern aus Esslingen. „Und immer noch finde ich das Herstellerschild der Maschinenfabrik an Orten, wo ich es nicht vermutet hätte“, schmunzelt Schäfer. Bis zum Jahr 2007 existierte die Maschinenfabrik noch als Grundstücksgesellschaft unter dem Dach des Daimler-Konzerns, dann wurde sie mit der Auszahlung der Aktionäre endgültig aufgelöst.
Unter den Dampfkesseln der Maschinenfabrik ist das Feuer erloschen, dafür leuchtet jetzt über den denkmalgeschützten Fabrikhallen in Esslingen-Mettingen der Mercedes-Stern umso heller. adt / Foto: oh / Repro: Roberto Bulgrin