Projekt „Und die Welt steht still“ erzählt von letzten Liedern und den Lebensgeschichten Sterbender – Liederabend am 3. Juni in Esslingen
An was erinnert sich ein Mensch, dessen Leben zu Ende geht? An seine Kindheit, seine Jugend, an die prägenden Zeiten im Leben. Viele dieser Erinnerungen sind eng verknüpft mit Liedern und Melodien. Der freie Journalist Stefan Weiller sammelt in seinem Projekt „. . . und die Zeit steht still – Letzte Lieder und Geschichten von Menschen im Hospiz“ die Lieder und damit gleichzeitig die Geschichten Sterbender. Diese musikalischen Vermächtnisse und Geschichten werden am 3. Juni ab 19.30 Uhr in der Stadtkirche St. Dionys in Esslingen aufgeführt.
An diesem bundesweiten Kunstprojekt haben sich auch Menschen, die im Hospiz Esslingen verstorben sind, mit ihren Lieblingsliedern und ihren Geschichten beteiligt. Weiller betreibt dieses Projekt seit einigen Jahren. Dafür tourt er in ganz Deutschland. Entschließt sich ein Bewohner eines Hospizes, mit dem Journalisten zu sprechen, reist Weiller sofort zu ihm.
Aus den Esslinger Kontakten, aber auch aus den Kontakten zu Hospizbewohnern anderer Städte, entsteht eine Collage aus Musik, Texten und Videoinstallationen, die am 3. Juni in der Stadtkirche präsentiert wird. Umgesetzt wird das Ganze vom Ensemble Capella Vocale an St. Dionys, der Kilian-Haiber-Band und vielen anderen haupt- und ehrenamtlichen Musikern. Die musikalische Leitung hat der Kirchheimer Bezirkskantor Ralf Sach. Als Sprecherinnen sind Irina von Bentheim, die deutsche Stimme von Sarah Jessica Parker, und Birgitta Assheuer zu hören. Der Sozialpädagoge und Journalist Stefan Weiller hat bei seinem Besuch in Esslingen im Hospiz viele Geschichten gehört, die die Menschen am Ende ihres Lebens umtreiben, er hat von Liedern erfahren, die Wendepunkte und Eckpunkte im Leben der Menschen begleitet haben, und von Erinnerungen und Gefühlen.
Meist sind es Kinderlieder, von denen die Menschen gerne erzählen. Darüber hinaus gibt es deutliche regionale Unterschiede, wie Weiller berichtet. „Die Esslinger sind Rocker“, hat er festgestellt. Alice Coopers „School’s out“ wurde als Lieblingslied genannt, Whitney Houston und die Dire Straits tauchten in den Erinnerungen auf. Aber auch die „Christel von der Post“ und Händels „Messias“. Dass Kirchenlieder in diesem letzten Soundtrack auftauchen, ist laut Weiller nicht selten. Die Esslinger Beiträge kombiniert Weiller mit Elementen aus anderen Hospizen, so dass das Projekt sich ständig verändert. Dabei bleiben die Befragten stets anonym. Und wenn ihre Lieder gespielt werden, sind die Befragten nicht mehr am Leben. „Es ist für meine Interviewpartner immer ein schöner Gedanke, dass etwas bleibt, wenn sie nicht mehr da sind“, sagt Weiller. In den Begegnungen mit den Hospizbewohnern wird nicht nur übers Sterben oder über Musik gesprochen. Sondern auch über das Leben. Oft werde herzlich gelacht, dazu laufe zuweilen Schlagermusik. „Es sind auch Begegnungen voller Lebensfreude“, so Weiller.
Da werde etwa nicht selten über kulinarische Vorlieben gesprochen. So habe ihn ein Esslinger Patient über die richtige Zubereitung schwäbischen Kartoffelsalats aufgeklärt. Doch er höre auch ganz tiefe und berührende Einsichten über das Leben. Ein Gespräch im Hospiz Esslingen hat Weiller über Tablet geführt, es war das erste
dieser Art. Der Gesprächspartner konnte sich sprachlich nicht mehr artikulieren, also hatte er diesen Weg der Kommunikation gewählt. Für Weiller war das eine neue Erfahrung, da es große Zeitspannen zwischen Fragen und Antworten zu ertragen galt. „Und das in einer Phase, in der dem Gegenüber eigentlich keine Zeit mehr bleibt.“
Für Dekan Bernd Weißenborn ist „Letzte Lieder“ viel mehr als ein künstlerisches Projekt. „Musik ist ein Mittel, die Seele des Menschen zu erreichen, oft auf eine tiefere Art, als Worte es können“, sagt Weißenborn. „Die Entscheidung, an diesem Projekt teilzunehmen, sei schnell gefallen, sagt er. „Es hat uns gleich angesprochen, es rückt die Biografien der Menschen in den Vordergrund und holt die letzte Lebensphase aus der Tabuzone.“ Außerdem fördere es das Verständnis für die Bedeutung der Hospizarbeit.
Stefan Weiller hat inzwischen rund 100 Interviews mit Sterbenden geführt. Er weiß, dass nur ein kleiner Teil der Menschen im Hospiz zu solchen Gesprächen noch in der Lage oder auch bereit ist. Bereits in mehreren Städten sind die Vermächtnisse der Sterbenden in einer Aufführung – Weiller bevorzugt die Formulierung musikalische Reportage – präsentiert worden. Zuweilen kommt das Team um Weiller an seine künstlerischen Grenzen. Alice Coopers „School’s out“ ist ein solcher Fall. „Unsere Sopranistin hat gesagt, dass sie das nicht singen kann“, erzählt er. Glücklicherweise hat dann das Esslinger Musikernetzwerk weitergeholfen. Einmal jedoch konnte Weiller etwas gar nicht umsetzen. Das Lied „Unbeschreiblich weiblich“ von Nina Hagen enthalte Textpassagen, die eindeutig zur Abtreibung aufrufen. „In der Kirche können wir das nicht bringen.“
Etwa ein Jahr lang war Weiller immer wieder im Esslinger Hospiz. Dort habe ihn die Atmosphäre beeindruckt, die er mit „professioneller Sachverstand und großes Herz“ umschreibt. Hospizleiterin Susanne Kränzle wiederum hat gerne die Türen des Hospizes für das Projekt geöffnet: „Es waren achtsame und wertschätzende Gespräche. Sie zeigen, dass es auch ein Leben vor dem Hospiz gab.“ Und es sei für die Sterbenden eine Möglichkeit, der Nachwelt etwas zu hinterlassen. Sie und ihr Team wüssten ja oft nicht, welche Lebensschätze die Patienten mitbrächten. Das Hospiz hat acht Plätze, die mittlere Verweildauer der Gäste sind 17 Tage. bob / Foto: bob
Info: „Und die Welt steht still“, Freitag, 3. Juni, 19.30 Uhr, evangelische Stadtkirche St. Dionys, der Eintritt ist frei. Finanziert wird der Esslinger Liederabend komplett über Sponsoren, so dass die gesamten Spenden des Abends dem Hospiz zugutekommen. Damit sollen dann zusätzliche Angebote wie Musik- oder Kunsttherapie finanziert werden.