Familien können nicht mehr warten

Enttäuscht und verbittert reagieren Betroffene auf den Planungsstopp für ein Wohnheim mit Kurzzeitpflegeplätzen für Kinder mit Behinderung in Baltmannsweiler

Fahrten nach Stuttgart und Ulm müssen die Familien auf sich nehmen, wenn sie ihre mehrfach behinderten Kinder betreuen lassen wollen. Wohnortnahe Angebote, die diesen Kindern und Jugendlichen beispielsweise den Schulbesuch während dieser Zeit ermöglichen würden, gibt es nicht im Kreis Esslingen. Seit zehn Jahren laufen entsprechende Planungen von Kreisverwaltung und Diakonie Stetten (Rems-Murr-Kreis) – doch erneut scheiterte jetzt die Umsetzung. Wegen steigender Baukosten hat die Diakonie Stetten den Bau des Wohnprojekts in Baltmannsweiler mit 18 stationären Plätzen und sechs Kurzzeitplätzen abgesagt. Das trifft die Betroffenen hart.
„Sprachlos und schockiert“ hat Judith Kuhn die Nachricht vom Aus für das in Baltmannsweiler geplante Wohnheim aufgenommen, das die Diakonie Stetten mit den steigenden Baukosten begründet. „Wir fühlen uns alleine gelassen, ich war kurz mal am Verzweifeln“, erklärt die Mutter von drei Kindern, deren mittlere Tochter wegen Sauerstoffmangels bei der Geburt schwere Hirnschäden davon getragen hat. Die Sechsjährige schläft nachts nicht, und auch tagsüber braucht sie ständig Betreuung. Den Weg von Ostfildern nach Baltmannsweiler hätten die Gymnasiallehrerin und ihr Mann, ebenfalls Pädagoge, in Kauf genommen, damit die Tochter eine Schule besuchen kann.
Doch daraus wird so schnell nichts. Und auch nichts aus der erhofften Entlastung. „Wir brauchen mal Pause in der Pflege, aber wir bekommen sie nicht“, klagt die Pädagogin, die einfach mal durchschlafen möchte, bevor sie mit ihren Schülern ins Deutsch-Abi geht.
Wenn sie ihre Tochter in Ulm oder Stuttgart für ein paar Tage Auszeit anmelden möchte, steht die Familie hinten auf der Liste, weil kreiseigene Kinder Vorrang haben. Und als Auswärtige müssen sie auch noch mehr bezahlen. „Wenn Familien auf Angebote bis nach Ulm oder den Bodensee verwiesen werden, ist dies unzumutbar für alle Beteiligten“, sagt dazu Simone Fischer, die Beauftragte der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Pflegende Familien bräuchten Entlastungsstrukturen in ihrer Nähe. „Wo sollen wir denn hin, wenn es hier nichts gibt?“, fragt sich auch Caroline Habrik, deren Tochter, mit einem Gendefekt geboren, in diesem Sommer die Schule verlassen muss, weil sie 18 Jahre alt wird. „Für unsere Kinder gibt es zu wenig Werkstattplätze“, ergänzt die Esslingerin, es hake an allen Ecken und Enden. Auch für ihre Familie sei das Aus in Baltmannsweiler ein Schock. Diesen Mangel an Versorgung bezeichnet Habrik als „unsäglich“, vor allem in einem Landkreis, der ja nicht arm sei.
Dieser Gedanke treibt auch Ursula Hofmann um, die sich seit vielen Jahren zusammen mit den genannten Müttern im Esslinger Verein „Rückenwind. Pflegende Mütter behinderter Kinder stärken!“ engagiert und zu dessen Gründerinnen zählt. „Es müsste sich doch jemand finden, der jetzt einspringt“, fordert die gelernte Hebamme, die ihre Tochter Anne pflegt, seit diese vor 20 Jahren mit einem Gendefekt auf die Welt kam. Den Beruf musste die vierfache Mutter an den Nagel hängen und damit sei Altersarmut – ähnlich wie bei vielen anderen pflegenden Müttern – programmiert. Immerhin erkenne die Kreisverwaltung inzwischen den Bedarf der Eltern an, sagt die Esslingerin, die 90 Familien hinter sich weiß.
Moralische Unterstützung kommt immerhin von Jutta Pagel-Steidl, Geschäftsführerin im Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung. Sie sagt: „Der Landkreis war und ist in der Verantwortung, Lösungen zur Entlastung zu finden. Es ist beschämend, wie der Kreis mit den Nöten der Familien umgeht.“
Den Bedarf bestätigt auch Christian Greber, der das Amt für allgemeine Kreisangelegenheiten leitet und „den Rückzug der Diakonie Stetten sehr bedauert“. Die Suche nach einem anderen Vertragspartner und Alternativen habe die Landkreisverwaltung eingeleitet und den Angehörigenvertretungen zugesichert. Dass die vorherigen Planungen am Standort Plochingen nicht umgesetzt werden konnten, „lag nicht in der Verantwortung des Landkreises“, ergänzt Greber mit Blick auf die vergeblichen Anläufe der Diakonie, das Angebot 2018 in Plochingen zu schaffen.
Einer Beteiligung des Kreises an gestiegenen Baukosten erteilt der Amtsleiter eine klare Absage: „Ein Baukostenzuschuss kommt nicht in Frage.“ Immerhin erfolge die Refinanzierung solcher Investitionskosten über Tagessätze, die von den Landkreisen finanziert werden.

com / Archivfoto: Gottfried Stoppel


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