Hölle und Hoffnung

Endlich Lockerung statt Lockdown? – Die Württembergische Landesbühne in Esslingen präsentiert ihren Spielplan für die Saison 2021/2022

Gar keine Vorstellung mehr ist gar keine schöne Vorstellung: In „Ewig jung“ ist der Vorhang für alle Ewigkeit gefallen, das Theater hat irgendwann in naher Zukunft den Betrieb eingestellt und dient nur noch als Seniorenresidenz für ehemalige, aber noch überaus agile Schauspieler. Viel Nostalgie-Comedy-Süßstoff also, den Erik Gedeons Singspiel schon seit 2001 am Hamburger Thalia Theater mit großem Erfolg in bitterer Kulturdystopie auflöst. Die aber schmeckt seit Corona noch bitterer. Die Esslinger Landesbühnenintendanten Friedrich Schirmer und Marcus Grube, die „Ewig jung“ auf den Spielplan gesetzt haben, gaben sich bei der Online-Präsentation der neuen Saison 2021/2022 denn auch vorsichtig: was Aufführungsumstände,  aber auch die Zukunft des Theaters schlechthin anbelangt. Dabei sehen sie ihre Württembergische Landesbühne in Esslingen (WLB) noch auf der institutionell einigermaßen sicheren Seite. Frohe Kunde kommt zudem  von  Ulrich Gehmacher, der Verwaltungsdirektorin Vera Antes während ihrer Elternzeit vertritt: Ein reges Interesse an WLB-Gastspielen in der kommenden Saison ist zu vermelden  – und eine treue Abonnentenschaft vor Ort. Es habe nur wenige Kündigungen in der langen Pandemie-Zwangspause gegeben.

In Versenkung verschwunden

In der Versenkung des rabiaten Theater-Lockdowns sind aber etliche Produktionen verschwunden, die im vergangen Herbst noch hoffnungsvoll terminiert waren. Doch den seit gut einem Jahr konzipierten Spielplan 2021/2022 in seiner „geschlossenen dramaturgischen Schönheit“, wie Schirmer sagt, konnte und wollte man nicht wieder aufreißen. Daher sollen die premierenreifen unter den verschobenen  Inszenierungen – „Minna von Barnhelm“ und „Liliom“ – ins neue Programm gemischt werden. Andere – „Der Diener zweier Herren“ und Patrick Süskinds Drehbuch „Vom Suchen und Finden der Liebe“ – wandern nach   2022/2023.

Goldener Mittelweg

Generell  geben sich Schirmer und Grube auf ihrem goldenen Mittelweg jenseits von  „blindem Aktivismus und depressiver Tatenlosigkeit“ (Schirmer) zumindest „teiloptimistisch“: Sie rechnen mit dem Abflachen der dritten Corona-Welle, mit einer endlich in die Gänge kommenden Impfkampagne – „auch wir am Theater werden jetzt alle geimpft“ – und dem Vertrauen des Publikums in die Sicherheits- und Hygienemaßnahmen des Hauses. „Die Nähe wie einst werden wir freilich nicht mehr kriegen, das alte Leben kommt nicht zurück“ , bedauert Schirmer.

Indes läuft der Probenbetrieb seit Februar wieder, wenn alles gut geht, finden noch vor der Sommerpause  Premieren statt. Und wenn nicht? Einen digitalen Plan B haben die Intendanten nicht, denn „Theater ist ein Live-Medium“, lautet ihr Credo. Nur die Junge WLB ist mit drei Produktionen vertreten auf www.theater-stream.de, der Online-Bühne baden-württembergischer Kinder- und Jugendtheater. Live geht die Junge WLB noch vor den Ferien an den Start mit „Romeo und Julia“ und dem Verstrickungsdrama „Was man von hier aus sehen kann“ um Liebe, Tod und düstere Ahnung. Das witzige Mutproben-Stück „Leon zeigt Zähne“ wird zu Beginn der neuen Saison nachgereicht, ebenso „Der kleine Nick“. Mit „Kriegerin“ nach David Wnendts Film von 2011 greift Spartenchef Jan Müller einen brisanten Stoff um eine junge Neonazi-Aussteigerin und eine noch jüngere Einsteigerin auf.

Die „große“ WLB wagt im Juni einen weiteren Freilicht-Versuch, nachdem vergangenes Jahr das Virus dazwischenging. Von „Shakespeare in Love“ hat man sich endgültig verabschiedet, denn der Filmstoff verträgt auch keine gelockerte Pandemie-Distanz. Stattdessen gibt es originalen Shakespeare, nämlich just jene Verwechslungskomödie, die der Dichter am Ende der Film-Fiktion schreibt: „Was ihr wollt.“ „The Black Rider“, die „Freischütz“-Version von William S. Burroughs, Tom Waits und Robert Wilson, wird ins kommende Jahr geschoben.

Moderne Klassiker

Signifikante moderne Klassiker   eröffnen die  neue Saison: Sartres „Geschlossene Gesellschaft“, als beklemmendes Kammerspiel über Isolation und Distanz gewissermaßen das Stück der Stunde, mit dem Befund „Die Hölle sind die anderen“; was auch für Albees abgründiges Ehedrama „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ gilt – samt der vagen Hoffnung, durch Einsicht die Teufelskreise zu durchbrechen. Davon kann in  Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ kaum  noch die Rede sein: Da glaubt einer ans Glück des Tüchtigen im Kapitalismus und geht in Wirklichkeit  rettungslos zugrunde in „Moneyland“, wie Marcus Grube sagt.

Mit der Uraufführung der Theaterversion von „Good bye, Lenin!“ setzt die WLB laut Grube ihre „Besichtigung des 20. Jahrhunderts“  in die  Wendezeit fort, als die Filmsatire auf den 79 Quadratmetern einer Ostberliner Wohnung eine imaginäre DDR weiterexistieren lässt. Eine ganz andere Spiegelung kleiner und auch großer Geschichten ist Patrick Süskinds „Kontrabass“, wohl das erfolgreichste, witzigste, skurrilste Solostück des neueren deutschsprachigen Theaters, eine Redepartitur zwischen knarzendem Untergrund und elefantösem Höhenflug.

Herbe Stoffe mit Humor sind vielleicht ein theatralisches Leit- und Leidmotiv in sarkastischen Zeiten: So in „Gehen oder Der zweite April“ über den geplanten Suizid eines alten Ehepaars und das deshalb  versammelte Familientribunal. Oder im Paartherapie- und Trennungsdrama „Und wer nimmt den Hund?“, laut Grube „eine Komödie, aber kein Wohlfühlstück“.

Ein  Uraufführungscoup

Einen  Uraufführungscoup hat Grube seinem Bruder zu verdanken, einem Germanisten. Dieser entdeckte im englischen Cambridge Stefan Heyms 1941 geschriebenes, verschollen geglaubtes Theaterstück „Der große Hanussen“ über den gleichnamigen Berliner Varietéstar der frühen 30er-Jahre: Er trat als Hellseher auf, war Jude und trotzdem Hitler-Verehrer, dem er sich als eine Art Reichsastrologe andienen wollte. Lichte Provinz-Momente in der deutschen Finsternis behandelt  „Die Freibadclique“ nach Oliver Storz’ Roman, eine Geschichte von 15-jährigen Jungs im Sommer 1944, die Wichtigeres im Sinn haben als die Nazis und deren Krieg. Der sie am Ende doch noch holt.

Fazit und aktueller Spielstand: Die WLB ist reif fürs Licht am Ende des Pandemie-Tunnels. Wie düster der ist, belegen Zahlen: In der Saison 2019/2020 besuchten knapp 80 000 Zuschauer die Vorstellungen – über 40 000 in Esslingen, über 39 000 in den Gastspielorten, davon insgesamt fast 78 000 vor dem ersten Lockdown am 12. März 2020, rund 13 000 mehr als im Vorjahreszeitraum. In der Saison  2020/2021 waren es bislang  5136 Zuschauer –  sensationell für eine Anderthalb-Monate-Spielzeit (am 31. Oktober fiel der Vorhang) mit drastisch reduziertem Platzangebot.  mez / Foto: Roberto Bulgrin


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