„Ich bin niemals Populist gewesen“

Ende September verabschiedet sich Oberbürgermeister Jürgen Zieger nach fast 24 Jahren aus dem Esslinger Rathaus – Feier im Neckar Forum und eine persönliche Bilanz

Fast 24 Jahre lang war Jürgen Zieger Esslinger OB. Ende September verabschiedet er sich aus dem Rathaus – als einer der dienstältesten Oberbürgermeister im Land. Eigentlich hätte seine Amtszeit erst im kommenden Jahr geendet, doch Zieger wollte den Zeitpunkt des Abschieds selbst bestimmen. Am vergangenen Freitag ist er bereits offiziell verabschiedet worden. Im Neckar Forum erwiesen dem 66-Jährigen zahlreiche Weggefährten und Vertreter des öffentlichen Lebens, aber auch viele Bürgerinnen und Bürger die Ehre. Selbst Ryan Sorensen, der Bürgermeister der US-Partnerstadt Sheboygan, war angereist. Die Laudatoren-Riege zeichnete das Bild eines kantigen Oberbürgermeisters, der sich stets mit ganzer Kraft für das Wohl seiner Stadt eingesetzt habe. Für seine Verdienste erhielt er die Ehrenplakette der Stadt.

Der Erste Bürgermeister Ingo Rust sagte an dem Abend an die Adresse des OB:    „Sie haben sich fast 24 Jahre lang mit Leib und Seele, mit Kraft und Einsatz, mit Haut und Haaren in den Dienst unserer Stadt gestellt. Dieses Amt fordert einen selbst, aber auch die Familie und das private Umfeld.“ Deshalb schloss Rust in den Dank an Zieger auch dessen Ehefrau Angela und die ganze Familie ein. Dank und Anerkennung des Ministerpräsidenten überbrachte Landes-Verkehrsminister Winfried Hermann. Hermann sagte, Zieger habe Esslingen gestaltet, entwickelt, vorangebracht. Er sei Macher und Treiber einer nachhaltigen Entwicklung gewesen, die auf soziale, ökologische und ökonomische Ausgewogenheit geachtet habe. Sein Nachfolger Matthias Klopfer werde eine bestens aufgestellte Stadt übernehmen.

 Carmen Tittel, Grünen-Fraktionschefin im Gemeinderat, betonte: „Hier geht nicht einfach eine Amtszeit zu Ende, hier endet eine Ära.“ Zieger sei stets ein engagierter OB mit einem klaren Ziel vor Augen gewesen. Gemeinderat und Rathauschef hätten es nicht immer leicht miteinander gehabt: „Aber wir hatten immer das Wohl der Stadt im Blick – nur über den Weg waren wir uns nicht immer einig.“ Für die Personalräte der Stadtverwaltung betonte Astrid Happel, man habe Zieger immer als gradlinig und verlässlich geschätzt.

Der scheidende OB ist sich wohl bewusst, dass er seinem Umfeld genau wie sich selbst viel abverlangt habe. Zieger dankte besonders seiner Frau Angela, seiner Familie und seinen Freunden für deren Rückhalt. Und mit etwas Wehmut in der Stimme schloss der OB: „Ich habe es als großes Privileg empfunden, unserer Stadt dienen zu dürfen, es war mir nicht in die Wiege gelegt. Es war mir eine Ehre.“

Im Interview mit unserer Zeitung blickt Zieger auf seine Jahre im Rathaus zurück.

Herr Zieger, als Oberbürgermeister hat man niemals Feierabend.  Kann ein OB seinen Job einfach auslaufen lassen?

Zieger: Man kann diese Arbeit mit ganzer Kraft machen, oder man macht sie schlecht. Das gilt bis zum allerletzten Tag. Deshalb wird der Umstieg aus der Zeit der Hochbelastung in eine ruhigere Lebensphase eine Zäsur sein. Aber ich möchte das Positive darin sehen.

Wie soll Ihr Leben künftig aussehen?

Zieger: Ich werde weiter einen strukturierten Tagesrhythmus haben und freue mich darauf, dass ich mein Tun nach dem ausrichten kann, was ich will und nicht nach dem, was ich muss. Das ist ein großer Unterschied. Und ich freue mich darauf, noch mehr Zeit für Kultur zu haben. Nachdem ich 1997 meine OB-Kandidatur in Esslingen bekannt gegeben hatte, war mein erster politischer Satz in der Öffentlichkeit: „Ohne Kultur stirbt Leben.“ Das war für mich immer ein Leitspruch. Ein bisschen habe ich mich auch als Kulturbürgermeister verstanden. An meiner Leidenschaft für die Kultur wird sich bestimmt nichts ändern.

Wussten Sie, worauf Sie sich einlassen, als Sie 1997 als OB kandidiert haben?

Zieger: Das wusste ich nicht in jedem Detail, aber ich habe es nie bereut, dass ich dieses Amt übernommen habe. Es gab nicht nur schöne Tage, aber ich musste nie die Sinnhaftigkeit meines Tuns in Frage stellen. Dieses Mandat ist in Baden-Württemberg mit großen Möglichkeiten ausgestattet. Darin liegen Chance und Risiko. Ich habe versucht, dieser Chance gerecht zu werden. Wahrscheinlich nicht zu jedermanns Freude, und Debatten, in denen ich das Gewicht des Amtes einbrachte, sorgten mitunter für Reibungshitze. Das muss man aushalten im politischen Geschäft. Wenn ich Menschen verletzt haben sollte, war das nie Absicht. Dann entschuldige ich mich dafür. Aber ich habe auch mich selbst nie geschont. Ich bin niemals Populist gewesen und bin nie den einfachen Weg gegangen, sondern den, den ich als richtig empfunden habe.

Verändert das Amt den Menschen?

Zieger: Wenn man engagiert eine solche Aufgabe – egal, auf welcher Ebene – ausübt, hat das Auswirkungen auf die Persönlichkeit. Jeder tut gut daran, sich zu erden. Meine Erdung hat immer stattgefunden, wenn ich nach Hause kam. Dafür haben meine Frau und meine Kinder gesorgt, wofür ich ihnen sehr dankbar bin, aber auch unser Freundeskreis.

Was waren Höhepunkte Ihrer Amtszeit?

Zieger: Ich möchte keine einzelnen Projekte aufzählen – darüber sollen andere urteilen. Mein wichtigstes Anliegen war es, Menschen aus 130 Nationen ein friedliches Miteinander zu ermöglichen. Und Menschen aus allen Gesellschaftsschichten Teilhabe am Leben der Stadt – kulturell und sozial. Und nicht zuletzt wollte ich helfen, dass Menschen, die in der Bildung nicht bei null, sondern oft weit darunter beginnen, eine echte Chance bekommen. Mir war immer an einem Klima des Miteinanders und des Füreinanders gelegen.

Bleiben Momente in Erinnerung?

Zieger: Die persönlichen Begegnungen mit unseren Schwörtagsrednern haben große Wirkung bei mir hinterlassen. Das sind Menschen mit einem besonderen persönlichen Hintergrund – genau wie unsere Haecker-Preisträger. Mit ihnen zu reden und ihre Geschichten zu hören – das sind Momente, die prägen.

Woran denken Sie ungern zurück?

Zieger: Ich gehöre nicht zu denen, die die Zeit rückblickend verklären. Insofern gibt es viele solcher Momente. Sie einzeln zu nennen, würde diesen 23 Jahren aber nicht gerecht werden.

Wie hat sich Esslingen während Ihrer Amtszeit verändert?

Zieger: Man kann das anders beurteilen, aber in meiner persönlichen Bilanz waren das gute Jahre für die Entwicklung unserer Stadt. Wahrscheinlich erinnern sich viele schon gar nicht mehr daran, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse davor in Esslingen waren. Wie politisch verstrickt die Stadt war und was es bis dahin alles nicht gegeben hatte. Ich möchte gar nicht die großen Projekte nennen, die das Stadtbild prägen. Vor 23 Jahren hat sich so gut wie niemand getraut, auf offener Straße einen Kaffee zu trinken. Das ist heute ganz anders. Oder denken Sie daran, was aus dem Weihnachtsmarkt geworden ist. Daran erkennt man den Geist einer Stadt.

Hat sich Ihre Arbeit im Laufe der Jahre verändert – und wenn ja –  wie?

Zieger: Die Kommunikation in aktuellen Debatten hat heute eine ganz andere Geschwindigkeit, eine ganz andere Intensität und eine ganz andere Härte. Politische Entscheidungen wurden vor 20 Jahren respektiert – heute geht das Theater dann erst los. Es genügt vielen nicht mehr, anderer Meinung zu sein. Heute wird der Andersdenkende oft diskreditiert. Bei den wichtigsten Debatten kann man sich nur noch aussuchen, ob die Pfeile von rechts oder von links kommen. Früher war es schwieriger, OB zu werden, aber leichter, OB zu sein. Heute ist das umgekehrt.

Wie steckt man das weg?

Zieger: Zu glauben, dass das im Gehalt inbegriffen sei, finde ich ziemlich falsch. Es gibt Menschen, die glauben, ich hätte ein dickes Fell. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe Mechanismen entwickelt, um persönliche Angriffe zu kompensieren. Sport ist ein sehr wichtiges Ausgleichsinstrument. Und natürlich haben mir mein familiäres Umfeld und meine Freunde geholfen, vieles wegzustecken.

Gibt es Themen, die Sie gerne noch angepackt hätten?

Zieger: Ich hätte große Lust, den Transformationsprozess der Innenstadt weiter zu begleiten. Ich hätte große Lust, den Neckaruferpark, den ich auf den Weg gebracht habe, einzuweihen, damit die Stadt Esslingen am Neckar wieder stärker an den Neckar rückt. Ich hätte große Lust, den Hochschulneubau in der Weststadt zu begleiten und die Transformation des bisherigen Hochschulstandorts auf der Flandernhöhe mitzugestalten. Und ich hätte große Lust, den Wohnungsbau und den weiteren Ausbau regenerativer Energien bei den Stadtwerken weiter zu forcieren. Oder den Ausbau des Klinikums und die Herausforderungen, die im Stadtkompass 2027 formuliert sind, konsequent anzupacken. Vieles ist bereits vorbereitet, und eine Stadt ist nie zu Ende entwickelt. Aber ich habe keine Sekunde an meiner Entscheidung gezweifelt, nun aus dem Amt zu scheiden.

Als Ex-OB soll man sich aus der Kommunalpolitik heraushalten. Schaffen Sie das?

Zieger: Ich werde selbstverständlich in Esslingen wohnen bleiben. Die Stadt ist unser Lebensmittelpunkt und unsere Heimat geworden. Ich werde die weiteren Entwicklungen aufmerksam verfolgen, aber auf Leserbriefe von mir werden Sie vergeblich warten. Und ich bleibe der Kultur in Esslingen eng verbunden. Ich leite zwei Stiftungen, bin beim Podium und beim Jazz-Festival aktiv und werde weiterhin WLB, Dieselstraße oder Jazzkeller besuchen, an dem ich sehr hänge.

Wo sehen Sie Esslingens Zukunft?

Zieger: Es wird darauf ankommen, ob es gelingt, den großen Bogen zu spannen. Ob es gelingt, den 450 Millionen Europäern in einer Weltbevölkerung von neun bis zehn Milliarden Gewicht zu geben. Ob wir unseren technologischen Fortschritt, der gerade schmilzt, halten. Ob es gelingt, nach den Klimadebatten nun konkrete Klimaprojekte auf den Weg zu bringen, damit wir unser Klimaziel erreichen. Und die Zukunft der Stadt wird sich daran entscheiden, ob es gelingt, die Wirtschaftskraft der Stadt und der Region zu erhalten. Aber ich habe nie aufgehört, zu träumen, dass es uns gelingt, die Welt jeden Tag ein bisschen besser zu machen. Daran sollten wir alle zusammen mitarbeiten.

Das Gespräch führte Alexander Maier / Foto: Roberto Bulgrin


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