Kampagne der Krankenhäuser und Ärzte im Kreis Esslingen: Patienten sollen Behandlungen nicht aufschieben

Die Coronakrise hat viele Menschen davon abgehalten, Kliniken oder Arztpraxen aufzusuchen – aus Angst vor einer möglichen Ansteckung oder auch aus Rücksichtnahme auf überlastetes medizinisches Personal. Die Folge davon sind unbehandelte oder zu spät behandelte Erkrankungen und nicht wahrgenommene Vorsorgetermine. Diesem – insbesondere für die Patienten – gefährlichen Trend wollen Ärzte und Kliniken im Landkreis Esslingen mit einer gemeinschaftlichen Sensibilisierungskampagne entgegen treten.
Mit Zeitungsanzeigen, Großflächenplakaten und Kampagnen in den Social-Media-Kanälen möchten die Initiatoren der Medius-Kliniken in Kirchheim, Nürtingen und Ostfildern-Ruit, dem Klinikum Esslingen und der Kreisärzteschaft die Menschen dahingehend sensibilisieren, die eigene Gesundheit nicht in den Lockdown zu schicken, wie es auf einem der Plakate heißt. Zugleich soll den Menschen versichert werden, dass die Kliniken und Praxen sicher sind. „Bei uns ist die Ansteckungsgefahr deutlich geringer als etwa in der S-Bahn, im Fußballstadion oder bei einer Geburtstagsfeier“, betont Matthias Ziegler, der Geschäftsführer des Klinikums Esslingen.
Sein Kollege Sebastian Grupp, der Geschäftsführer der Medius-Kliniken, springt ihm bei: „Bei uns in den Klinken herrscht Herdenimmunität, bei der hohen Impfrate, die wir haben.“ Der Nürtinger Mediziner Wolf-Peter Miehre berichtet von seinen Erfahrungen mit Patienten, die ihre Behandlung aufgeschoben haben. Da habe ein Infarktpatient drei Tage abgewartet, bevor er sich behandeln ließ: Er müsse nun mit einer Narbe am Herzgewebe leben. Eine weitere Patientin hatte Probleme mit der Hüfte. Anstatt den Arzt aufzusuchen, schluckte sie viele starke Schmerztabletten, bis sie einen Magendurchbruch erlitt.
Folgenreich sind auch verschleppte Krebsdiagnosen. Stefan Krämer, der ärztliche Direktor und Chefarzt der Radiologie und Nuklearmedizin in Esslingen, beklagt: „Wir sehen jetzt Krankheiten, die so fortgeschritten sind, wie wir es noch nie gesehen haben, wie beispielsweise ein durchgebrochenes Mammakarzinom.“ Krämer und sein Kollege, Bodo Klump, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Tumormedizin an der Medius-Klinik in Ruit, weisen darauf hin, dass Krebs und viele andere Krankheiten keine Pause wegen Corona machen.
Das machen auch Studien deutlich: Die AOK stellt deutschlandweit einen Rückgang der Krebsdiagnosen um 20 Prozent fest – als Folge von nicht wahrgenommenen Untersuchungen. Ebenso wurden im Jahr 2020 hunderttausende Vorsorgeuntersuchungen in Deutschland abgesagt. Laut der DAK ist dadurch ein Rückgang der Krebsvorsorge bis September 2020 um 17 Prozent zu verzeichnen. Auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die Zahlen eindrücklich: Schlaganfälle und Herzinfarkte wurden um 19 beziehungsweise um 31 Prozent weniger stationär behandelt. Klump zitiert eine britische Studie, nach der künftig 15 Prozent mehr Tote durch Darmkrebs zu befürchten seien, da wirksame Früherkennungsuntersuchungen nicht wahrgenommen worden sind.
Die Mediziner betonen, dass die Zustände in den Krankenhäusern nicht zu vergleichen seien mit temporären Zuständen während der ersten und der zweiten Welle. „Es gibt keinen Grund, eine notwendige Behandlung oder eine Vorsorgeuntersuchung auszulassen“, sagt Matthias Ziegler. Die Mediziner schauen auch ziemlich gelassen in die Zukunft: Derzeit liegen keine Corona-Patienten auf den Stationen, und für kommende eventuelle Verschärfungen sei man gut vorbereitet. bob / Foto: Ines Rudel