Der Esslinger Bahnhof und sein Umfeld haben keinen guten Ruf – Wissenschaftlerinnen legen die Finger in die Wunde

Modern, aber seelenlos – keine Identität, kein Leben.“ Dieses Zitat aus ihren Experteninterviews bringt für Ines Hohendorf und Ina Hennen, Mitarbeiterinnen der Stiftungsprofessur für Kriminalprävention und Risikomanagement an der Universität Tübingen, die Probleme des Viertels zwischen der Esslinger Schlachthaus-, Martin- und Bahnhofsstraße am besten auf den Punkt. Im Auftrag der Stadt haben die Sozialwissenschaftlerinnen in ihrer Sozialraumanalyse die Probleme des Bahnhofs und seines Umfelds unter Berücksichtigung von Sicherheitsaspekten drei Monate lang unter die Lupe genommen: mit Vor-Ort-Begehungen und strukturierten Beobachtungen, Interviews mit Experten, Passanten oder anderweitig Betroffenen und den Sozialstruktur- und Kriminalitätsdaten für das Quartier. Das erste Modul, die Beschreibung der Nutzergruppen, Probleme und Bedarfslagen, haben sie jetzt vorgestellt.
Was jetzt publik wurde, ist eine Bestandsaufnahme, die in den wesentlichen Punkten nicht überrascht, aber manches vielleicht etwas relativiert oder in einen anderen Zusammenhang bringt. Dabei konnten die Wissenschaftlerinnen dem Bahnhof und seinem Umfeld positive Aspekte abgewinnen. Wie der moderne Eindruck, den er auf den ersten Blick hinterlasse, die guten ÖPNV-Anbindungen, die Einkaufs- und Parkmöglichkeiten oder Freizeitangebote.
Ihr Augenmerk sollte sich aber auf das richten, was dort nicht gut läuft. Beispiel Sicherheit: Bei mehr als 100 Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten im Jahr, bei denen Alkohol meist eine große Rolle spielt, haben Polizei und Ordnungsamt den Bahnhof als örtlichen Brennpunkt ausgewiesen. 361 Mal ist die Polizei im vergangenen Jahr an den ZOB gerufen worden, was in 158 Strafanzeigen mündete. In den restlichen Fällen musste sie Streitigkeiten schlichten oder Betrunkene vorübergehend aus dem Verkehr ziehen. „Die Kriminalitätsbelastung hebt sich damit von allen anderen Örtlichkeiten im Stadtgebiet deutlich ab“, heißt es in der Stellungnahme von Polizei und Ordnungsamt. Vor allem hinsichtlich der „höheren Leibesgefährdung“, schreiben die Autorinnen.
2020 seien 145 Straftaten im Bahnhofsumfeld verzeichnet worden, berichtet Ines Hohendorf. Ludwigsburg verzeichne drei Mal so viele an ihrem Bahnhof, empfinde diese Zahl aber bei Weitem nicht so als Bedrohung wie Esslingen. Was, so räumt sie ein, daran liegen könnte, dass in Esslingen mehr Gewalt, Aggression und Körperverletzung im Spiel seien. Zehn Prozent der Straftaten im Esslinger Bahnhofsbereich haben mit Rauschgift zu tun.
Den Wissenschaftlerinnen ist aufgefallen, dass sich das Quartier durch Baustellen, Lärm und Verkehr auszeichne. Tagsüber sei es rund um den Bahnhof belebt, nachts hingegen leer und dunkel. Ina Hennen: „Das Sicherheitsempfinden ändert sich mit der Tageszeit.“ Sexistische und rassistische Belästigungen, eine sehr geringe soziale Kontrolle nach Ladenschluss sowie die Trinkerszene auf dem Bahnhofsplatz und zwischen Rewe und Altem Zollamt beeinträchtigten das Sicherheits- und Wohlgefühl und würden oft zu Vermeidungsstrategien führen – sprich: zu Umwegen für die Betroffenen.
Am massivsten ballt sich die Kritik an der Aufenthaltsqualität des Bahnhofsplatzes. Der umstrittene Charme des Toilettengebäudes, der ungenutzte Infocontainer und das Corona-Testzentrum würden ihn einengen und unübersichtlich machen. Es fehle ihm an Funktionalität, an Grünflächen und Schatten im Sommer, an einer guten Beleuchtung und überhaupt einem guten Design. Müll und Dreck wurden ebenso häufig als Problem genannt – obwohl das den Wissenschaftlerinnen selbst nicht so ins Auge gefallen war. Dazu komme punktuell der Gestank vom öffentlichen Urinieren und der Anblick von Schrottfahrrädern. Der Platz leide darunter, dass man sich kaum irgendwo hinsetzen könne, ohne etwas konsumieren zu müssen.
Seit Mai arbeiten die Wissenschaftlerinnen an Handlungsempfehlungen, wie man das Bahnhofsquartier zum „urbanen Raum für alle“ machen könnte. Die sollen am 20. Juli öffentlich gemacht werden.
biz / Foto: Roberto Bulgrin