Bei der Reform 1973 hat sich der Landkreis Esslingen um das Altkreis-Nürtingen-Gebiet vergrößert – Wunden sind verheilt

Es war eine schwere Geburt mit heftigen Wehen: Vor 50 Jahren entstand der Landkreis Esslingen in seiner heutigen Form. Der runde Geburtstag ist vergangene Woche mit einem Festakt im Wernauer Quadrium gefeiert worden. Anders als 1973 gibt es Grund zur Freude: Längst ist zusammengewachsen, was ein radikaler Verwaltungsakt zusammengebracht hatte.
Seit dem 19. Jahrhundert bildeten die Oberämter Esslingen, Nürtingen, Kirchheim und das Amtsoberamt Stuttgart den Kernbereich des heutigen Landkreises Esslingen. Im Zuge der Verwaltungsreform von 1938 wurde er um einige Gemeinden des aufgelösten Amtsoberamts Stuttgart vergrößert, hinzu kamen zudem die Schurwaldgemeinden des einstigen Oberamts Schorndorf sowie die Gemeinden Hochdorf und Reichenbach. Aus den Oberämtern Kirchheim und Nürtingen entstand der Kreis Nürtingen.
Vorschläge, die kleinteilige württembergische Oberamtsstruktur aufzuheben, habe es schon zu früheren Zeiten gegeben, sagt der Esslinger Kreisarchivar Manfred Waßner. Gleichwohl kam die Idee, im Südwesten „Großkreise“ zu schaffen, einem Erdbeben gleich: Als die aus CDU und SPD gebildete Landesregierung 1969 ihre Vorstellungen zu einer Gebietsreform der Landkreise öffentlich machte, erschütterte das die Kommunalverwaltungen landauf und landab. Denn das „Denkmodell“ sah vor, aus bislang 63 Landkreisen durch Zusammenschlüsse per Gesetz nur noch 25 zu machen. Davon versprach man sich effizientere und vor allem kostengünstigere Verwaltungen.
Sogleich begann ein Hauen und Stechen auf allen politischen Ebenen. Kein Kreis wollte unter die Räder kommen und das Rennen verlieren, jeder wollte seinen Kreissitz verteidigen. Im Stuttgarter Landtag, dem Hauptschauplatz lebhafter Diskussionen, versuchten die Kommunalvertreter aus dem ganzen Land, die Abgeordneten quer durch die Fraktionen auf ihre Seite zu ziehen. „Iss und trink, solang dir’s schmeckt, schon wieder ist ein Kreis verreckt“, soll man sich in jenen Tagen in der Landtagsgaststätte zugerufen haben.
Spielball der Politik
Die Reaktion auf den Vorschlag ließ nicht lange auf sich warten: Die CDU-Landtagsfraktion legte 1970 ein „Alternativmodell“ vor, das 38 Landkreise vorsah. Nach vielen Debatten und weiteren Gutachten legte sich die Koalition am Ende auf 35 Kreise fest. Für einige Kreise änderte das freilich wenig an der Dramatik, sie wurden zum Spielball der politischen Verhandlungen.
Der Landkreis Nürtingen, sagt Waßner, war eines der umstrittensten „Opfer“ der Reform. Er steht im Magazin des Kreisarchivs, wo die Zeitzeugen des erbitterten Nachbarschaftsstreites mit Esslingen lange Regalreihen füllen: von Akten über Gutachten und Broschüren bis hin zu Protestplakaten. Mit einer wahren Publikationsflut hatten beide Seiten versucht, ihre Argumente unters Volk zu bringen.
Obwohl zunächst mehrere Gutachten den beiden Kreisen Esslingen und Nürtingen bescheinigt hatten, mit ihrer Größe jeweils für sich existenzfähig zu sein, wurde 1971 vom Parlament die Zusammenlegung ins Auge gefasst und schließlich – gegen große Widerstände vor allem in Nürtingen – auch beschlossen. Sitz des neuen Kreises sollte zunächst Nürtingen werden. „Man ging lange davon aus, dass Esslingen eine kreisfreie Stadt wird“, sagt Waßner. Das wiederum wollten die Esslinger verhindern. Sie fürchteten, die Stadt würde durch die Ausweisung in den Schatten von Stuttgart geraten. Ihre geschickte Lobbyarbeit zahlte sich aus: In der dritten und letzten Lesung des Gesetzes im Landtag setzte sich Esslingen mit elf Stimmen mehr als Kreissitz durch. Nürtingen sammelte daraufhin fleißig Unterschriften für die Volksabstimmung über die Auflösung des Landtages und reichte beim Staatsgerichtshof eine Klage gegen das Reformgesetz ein, was letztendlich erfolglos war.
Gemeinden kommen und gehen
Die Landkreise Esslingen und Nürtingen bildeten somit zum 1. Januar 1973 den neuen Landkreis Esslingen: Die Gemeinde Grafenberg wurde an den vergrößerten Landkreis Reutlingen abgegeben, 1975 kamen bei der Bildung der Stadt Leinfelden-Echterdingen noch Musberg und Leinfelden vom Kreis Böblingen dazu, sodass der Landkreis Esslingen nunmehr 44 Städte und Gemeinden umfasst, in denen inzwischen rund 538 000 Menschen leben. Kommissarischer Landrat war zunächst der Esslinger Landrat Richard Schall, bevor sich bei der Wahl im Herbst 1973 Hans Peter Braun durchsetzte. Er blieb bis zum Jahr 2000 im Amt. Ihm folgte Heinz Eininger nach, der bis zum heutigen Tag oberster Kommunalbeamter des Kreises ist. Aus historischer Sicht, sagt Kreisarchivar Waßner, sei der Zusammenschluss der beiden Landkreise die richtige Entscheidung gewesen.
eh / Foto: Ines Rudel