Soforthilfe nach Vergewaltigung

Ruiter Medius-Klinik hilft Opfern sexualisierter Gewalt bei der Spurensicherung, auch wenn diese keine Anzeige erstatten

Es sind erschreckende Zahlen: Alle drei Minuten wird in Deutschland eine Frau Opfer sexueller Gewalt. Lediglich etwa fünf Prozent der Delikte werden angezeigt. Und nur wenige Frauen lassen sich – aus Angst oder Scham – medizinisch versorgen. Um den Opfern einer Vergewaltigung letzteren Schritt zu erleichtern, gibt es in der Medius-Klinik in Ruit jetzt die Möglichkeit einer medizinischen Soforthilfe. Fachleute helfen dabei, Spuren zu sichern und kümmern sich um eine psychosoziale Betreuung. Das Besondere an dem Angebot: Die Betroffenen müssen keine polizeiliche Anzeige erstatten. Die Beweise werden ein Jahr lang gesichert und können auch erst später gerichtlich verwertet werden.
„Damit gehören wir zu Vorreitern in der Region“, sagte der Landrat Heinz Eininger bei der Vorstellung des Gemeinschaftsprojekts, an dem außer den Medius-Kliniken Barbara Straub, die Beauftragte für Chancengleichheit der Stadt Esslingen, die Zentrale Kriminaltechnik des Polizeipräsidiums Reutlingen, die Beratungsstellen Wildwasser Esslingen und Kompass Kirchheim sowie Astrid Spurk, die Sozialhilfeplanerin des Landkreises Esslingen, mitgearbeitet haben. Nur im Kreis Ludwigsburg gibt es ein solches Angebot bereits. Im ganzen Land sind nach den Angaben Einingers elf Standorte geplant.
Im Kreis Esslingen wurden im Jahr 2020 insgesamt 313 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung angezeigt. Dazu zählen Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe und sexuelle Belästigung. Zwischen 87 und 93 Prozent der Opfer seien Frauen. Männer seien zwar in der Minderheit, aber das neue Angebot in Ruit richte sich ausdrücklich auch an sie.
Nach dem Anstoß durch Kompass und Wildwasser sei sein Team sofort Feuer und Flamme für das Projekt gewesen, sagte Michael Burkhardt, der Chefarzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe: „Uns geht es in erster Linie um die medizinische Versorgung von Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Jede Vergewaltigung ist ein medizinischer Notfall und sollte fachärztlich versorgt werden.“
Die Opfer seien nach solchen traumatischen Erlebnissen völlig überfordert, berichtete die Assistenzärztin Hanna Sommer, die das Projekt in der Medius-Klinik forciert hat. Die Frage, ob sie den Vorfall der Polizei melden sollen, sei für viele ein riesiges Problem. Bei der medizinischen Untersuchung und der Spurensicherung gehe es erst einmal um Vertrauensbildung. Alle Schritte der Spurensicherung erfolgten in Absprache mit den Betroffenen. Ob sie gerichtlich gegen ihren Peiniger vorgehen wollen, könne jede oder jeder auch später entscheiden.
Auf die erschreckend hohe Dunkelziffer machte der Esslinger Oberbürgermeister Matthias Klopfer aufmerksam. Dieses niederschwellige Angebot sei eine Chance für vergewaltigte oder misshandelte Frauen und Männer, die nicht ein noch aus wüssten und sich erst einmal sortieren müssten. Klopfer verwies auf die Traumaambulanz in den Städtischen Kliniken in Esslingen, die eine ähnliche Anlaufstelle bilde. Das neue Projekt in Ruit nannte der OB ein Beispiel für das gute Miteinander der Krankenhäuser in Esslingen und im Landkreis. Genauso sieht es der Landrat Eininger: „Ein solches Vorhaben kann nur gelingen, wenn Kooperationen gebildet werden und gut aufeinander abgestimmt sind.“
Es brauche ein umsichtiges und sensibles Vorgehen, sagte Angelika Schönwald-Hutt, die Leiterin der Fachberatungsstelle bei Kompass Kirchheim. Um dies zu gewährleisten, hätten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Projektgruppe Qualitätsstandards entwickelt. Dazu zählten eine Verfügbarkeit rund um die Uhr, Behandlungsschritte unter einem Dach, ein gut informiertes Klinikpersonal, Fortbildungen und die Kooperation mit der Rechtsmedizin in Heidelberg. Denn an erster Stelle stehe die Gesundheit der Betroffenen und deren Stabilisierung, betonte Julia Gebrande, die Vorstandsmitglied bei Wildwasser Esslingen ist. Wichtig sei, dass sie aber auch nach der Spurensicherung und der medizinischen Betreuung nicht auf sich allein gestellt bleiben.
Eine Anschubfinanzierung für das Projekt leistet die Stiftung der Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen. Darüber hinaus bringen die Kooperationspartner laut Eininger viel Eigenleistung ein. Die Verhandlungen von Land und Krankenkassen für eine Kostenübernahme dauerten noch an.

hf / Foto: Ines Rudel


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