Sparen für Weihnachten beginnt Ostern

Hartz IV: Vor allem Langzeitarbeitslose leiden stark unter ihrer Situation – Mühsam im Alltag – Zwangsrente droht


Genau 5,11 Euro stehen einem alleinstehenden erwachsenen Menschen, der von Hartz IV lebt, pro Tag für Essen und Getränke zu. Für Lebenspartner und Kinder ist der Satz niedriger. Wie kommt man damit durch den Tag? Was macht das mit den Menschen? Eines wird schnell deutlich: Hartz IV beeinflusst das Leben der Betroffenen in hohem Maße. Und Hartz IV kann krank machen.

„Am meisten leide ich darunter, dass ich niemanden einladen kann, dass ich nicht so gastlich sein kann, wie ich es gerne möchte“, bringt Katharina F.* ihre Situation auf den Punkt. Die Esslingerin ist schon seit 2012 ohne Arbeit und lebt von Hartz IV. Auch davor war es schon schwierig: Seit der Geburt ihrer heute 22-jährigen Tochter, die noch bei ihr lebt, hat die Alleinerziehende nicht mehr lange Zeit am Stück gearbeitet. Sie war zuvor bei einem „Großkonzern“ beschäftigt, aber die Bedingungen zur Weiterbeschäftigung waren nicht vereinbar mit der Betreuung ihres Kindes. Ein Jahr oder auch mal anderthalb Jahre lang klappte es mit der Arbeit, dann war sie wieder arbeitslos. Dabei hat Katharina F. aus ihrer Sicht alles richtig gemacht: Ursprünglich war sie kaufmännische Angestellte, dann hat sie sich zur Wirtschaftsassistentin weitergebildet. „Nichts Exotisches, sondern etwas wirklich Handfestes“, wie sie sagt. Dennoch, die feste Arbeitsstelle blieb aus.

Frieder Claus, der Armutsexperte der Diakonie und in der
unabhängigen Hartz-IV-Beratung aktiv, kennt zahlreiche solcher Schicksale. Und es wundert ihn nicht, dass eigentlich gut ausgebildete Menschen lange Zeit ohne
Arbeit bleiben: Denn wer nicht arbeitet, dessen Wissen verflache zunehmend. Eigentlich benötige er Weiterbildung und Auffrischung. „Eine echte Qualifizierung für Qualifizierte gibt es so nicht“, sagt Claus. „Für Weiterbildungskurse sind die Mittel seit rund zehn Jahren erheblich gekürzt worden.“

Das betrifft auch Michael P.* Trotz guter Ausbildung ist auch er seit 2003 arbeitslos und von Hartz IV abhängig. Der Esslinger Industriekaufmann wollte mehr und hat sich zum Betriebswirt und zum Bilanzbuchhalter weitergebildet. In den damaligen Kursen fehlte aber die später verbindliche internationale Ausrichtung im Bilanzwesen. Vergeblich hat sich P. seither bemüht, über das Jobcenter das zusätzliche Zertifikat zu erlangen. Sein Angebot, die  Zusatzausbildung auf Darlehensbasis abzuzahlen, sei immer abgelehnt worden.

„Ich habe doch alles richtig gemacht“, meint der Esslinger. „Und dennoch steh ich auf der Straße.“ Da fange man schon an zu grübeln und frage sich: „Was stimmt denn nicht mit mir?“ Dabei ist Michael P. niemand, der sich leicht einschüchtern lässt. Gegen die „ständigen kleinlichen Gängeleien“ wehrt er sich, geht auch schon mal wegen eines Briefportos, das ihm zusteht, vors Gericht.

Wie stark die Hartz-Gesetze die Situation von Menschen ohne Arbeit oder mit geringer Rente verändert haben, beschreibt Frieder Claus. So sei die Armutsquote seit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 um vier Prozentpunkte auf 16 Prozent gestiegen. Seit dem Jahr 2000 hätten in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD-Land, zitiert er einen Bericht aus dem Zusammenschluss von 26 Industrienationen. Neue Armutsformen wie etwa Kinder- oder Altersarmut seien entstanden. Die Zahl der Menschen, die auf Sozialhilfeniveau leben, sei von 3,3 auf 7,8 Millionen gestiegen. Claus: „Hartz IV hat nicht mehr Arbeit geschaffen. Vielmehr sind normale Arbeitsverhältnisse zunehmend in Teilarbeitsverhältnisse aufgespalten worden, von denen man meist nicht leben kann.“

Der Alltag mit Hartz IV ist eine ständige Herausforderung, es geht immer um die Existenz. „Eisernes Sparen und Rechnen im Centbereich“, beschreibt Katharina F.  ihren Tagesablauf. Will sie zu Weihnachten etwas verschenken oder ein besonderes Essen auf den Tisch bringen, muss sie Ostern mit dem Sparen beginnen. „Und Wünsche zu haben, das habe ich mir längst abgewöhnt“,  fügt sie hinzu. Katharina F. beschreibt ihren Zustand als ein  „Leben aus zweiter Hand“. Viele Dinge, die sie sich nicht leisten kann, wie Urlaub, Freizeitangebote, Konzerte und Ähnliches, nimmt sie aus Berichten von anderen wahr. Sie hat sich eine „Lebensbewältigungsstrategie“ zurecht gelegt: „Ich versuche dann, mir das, was sich höre oder im Fernsehen sehe, genau so vorzustellen, als wäre ich selbst dabei gewesen.“ Auch ihre Tochter Mary*, die gerade in Ausbildung ist, leidet unter der Situation.  „Freizeitaktivitäten lassen sich kaum gestalten“, sagt die 22-Jährige. „Ich kann nicht ins Kino oder essen gehen. Wenn man immer absagt, bleiben Freunde weg, man wird auch nicht mehr gefragt.“ Katharina F. wünscht sich nichts sehnlicher als eine Arbeit – eine Halbtagsstelle, denn mehr geht nach ihrer gerade überstandenen schweren Erkrankung wohl nicht mehr. Stattdessen droht der 59-Jährigen die Rente – die Zwangsverrentung, um genau zu sein. „Die Zwangsverrentung mit 63 kommt auf mich zu und somit auch ein 20-prozentiger Abschlag auf die reguläre Rente, ohne dass ich das noch ausgleichen könnte.“

Frieder Claus kritisiert das als eine der „Entmündigungen, die  ausschließlich bei Hartz-IV-Empfängern möglich sind“. Claus prangert auch die tagtäglichen Hürden für die Betroffenen an: die schwer verständlichen, oft falschen Bescheide, Callcenter statt persönlicher Berater und die dünne Personaldecke bei den Sachbearbeitern.

Katharina F. und Michael P. sind sich darüber im Klaren, dass man nicht aufgeben darf: „Nicht schwach werden, sonst ist man verloren“, sagt Katharina F. Beide sind ehrenamtlich engagiert, das helfe. Michael P. hat sich ein soziales Umfeld bewahrt: Mit Kumpels von der Hochschule geht er regelmäßig zum Sport: „Das trägt und hilft.“

Dennoch: Armut ist ein Gesundheitsrisiko. Wer arm ist, stirbt im Schnitt sieben bis zwölf Jahre eher als Normalverdiener.       bob / Fotos: dpa

*Namen geändert

 

Info: Unabhängige Hartz-IV-Beratung bei sozialen Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, Flyer über Diakonie, AWO, Caritas, DRK und andere.


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