Toter Esslinger Gastronom gibt Kommissar Blickle Rätsel auf: Hat die Mafia zugeschlagen? – EST hilft bei Ermittlung
Das Alte Rathaus in Esslingen mit seiner Fassade von Meisterarchitekt Schickhardt, der Astronomischen Uhr und dem wunderbaren Glockenspiel war das Ziel der geführten Tour. Die Leute lauschten gebannt den Geschichten des Stadtführers. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, was sich Schreckliches wenige Meter entfernt zutrug. Niemand hörte den Schuss, niemand hörte, wie ein Körper schwer aufschlug, dann in den Kanal am Kanzleiufer rutschte und im flachen Wasser liegen blieb. Der italienische Gastronom Salvatore Marrazzo, ein bekannter Mann in Esslingen, war tot, mausetot.
Der Fall schlug hohe Wellen. Der Mord geschah mitten in der Stadt, am frühen Abend, während gerade eine Führung der Esslinger Stadtmarketing und Tourismus GmbH (EST) durch die Altstadt lief. Eben an jenem Kanzleiufer entlang mit dem Ziel Altes Rathaus, wo Eckart Hirschmann die Teilnehmer mit seinem Glockenspiel zur vollen Stunde erfreuen sollte. Zum Abschluss hätte die Gruppe dann im Accanto neben dem Alten Rathaus getafelt: Doch Wirt Marrazzo konnte ihnen nichts mehr servieren. In seinem Kopf steckte eine Kugel.
Kommissar Blickle schaute sich gerade die Speisekarte in der Trattoria Accanto an und gab leise zustimmende Geräusche von sich, als die Tür aufflog und seine Assistentin Bettina Schnell herein eilte. „Chef, Polizeiarzt Hades sagt, der Marrazzo wurde um 17.30 Uhr ermordet. Seine Armbanduhr blieb stehen, als er auf den Boden aufschlug“, sagte sie und zog ihn am Ärmel. „Wir sollten mal rasch um die Ecke zum Tatort.“ Blickle, eher unwillig, da er gerade erwogen hatte, sich Spaghetti Accanto mit Brokkoli-Sardellen-Soße kommen zu lassen, vielleicht mit einem klitzekleinen Weißen aus dem Trentin, stand auf und folgte seiner wie immer hellwachen Partnerin. „Ein ermordeter Sizilianer“, sagte er. „Was wird da schon dahinterstecken? Die Mafia, die Cosa Nostra, die Corona Unita oder die N‘drangheta“, zählte er auf, um mit seinem Halbwissen über die italienische Kriminaltradition anzugeben. Schnell rollte die Augen: Der Chef wurde immer ignoranter. Marrazzo hatte sich immer als italienischen Schwaben bezeichnet, betrieb seit Jahrzehnten das Restaurant Reichsstadt und seit 2013 das Accanto neben dem Alten Rathaus. Mafia? So ein Quatsch!
Immerhin ließ sich Blickle informieren: Die Führung – unterwegs waren zehn Männer und Frauen, etliche davon aus einem Schützenverein – war bei der EST vor zwei Wochen gebucht worden. EST-Chef Michael Metzler und Stellvertreterin Charlotte Fink waren zum Kanzleiufer geeilt, um die Polizei mit Infos zu versorgen. Denn Blickle und Schnell vermuteten, dass der Täter unter den Teilnehmern der Führung zu suchen war.
In der Tat gab es Auffälligkeiten: „Da waren drei Personen, die unbedingt diese Führung haben wollten“, erinnerte sich Fink. „Wir haben ja insgesamt 40 Führungen, aber diese Leute fragten exakt nach dieser, die am Kanzleiufer vorbeiführt und im Accanto zum Essen endet.“ Von den Teilnehmern der Führung konnte sich aber niemand daran erinnern, dass jemand am Alten Rathaus gefehlt haben sollte.
Die drei auffälligen Personen sollten unter die Lupe genommen werden: Da war ein Esslinger namens Peter Schaf, der Mitglied eines Schützenvereins war und als Buchhalter in Plochingen arbeitete, eine Frau aus Kirchheim namens Petra Hahn, die Italienisch-Dolmetscherin war und in Sizilien gelebt hatte. Der Dritte war Gianni Corleone aus Ostfildern, der als Gärtner in Nürtingen arbeitete. „Da steckt doch eine Frauengeschichte dahinter“, sagte Blickle und machte dabei eine pubertäre Handbewegung. Bettina Schnell funkelte ihren Chef wütend an – zum Glück hatte niemand etwas davon bemerkt.
Vielleicht lag Blickle gar nicht so falsch: Die beiden Ermittler begannen, über die drei auffälligen Personen Infos zu sammeln. In der Tat traten erstaunliche Dinge zu Tage. Die Frau kannte Marrazzo, es wurde von einem Verhältnis der beiden gemunkelt, das die Frau wesentlich ernster als der Italiener genommen haben sollte. Das berichtete Marrazzos Angestellte Ivana. Marrazzos Landsmann Corleone wiederum wollte vor Jahren ein Lokal am Alten Rathaus in Esslingen eröffnen, zog aber gegen seinen gewichtigen Mitbewerber den Kürzeren. War da eine alte Schuld zu begleichen? Interessant hörte sich auch der Background des dritten Verdächtigen an: Peter Schaf war Buchhalter und arbeitete bei Marrazzos Steuerberater. Sollte er auf Ungereimtheiten bei dessen Steuer gestoßen sein? Ist da ein Erpressungsversuch aus dem Ruder gelaufen? Dunkle Geschäfte? „Geldwäsche“, dachte Blickle.
Marrazzo hatte man offensichtlich in die Falle gelockt. Kellnerin Ivana sagte, dass der Chef noch kurz wegwollte. Er sei am Kanzleiufer mit jemandem verabredet gewesen. Eine unangenehme Geschichte, habe er nur angedeutet.
Blickle und Schnell mussten die drei Verdächtigen verhören. Petra Hahn, aktive Schützin, gab sich cool. Sie habe Marrazzo längst den Laufpass gegeben. Ihr Alibi: Sie sei immer bei der Führung gewesen. Sie erinnerte sich an die Geschichte über Baumeister Schickhardt. Buchhalter Peter Schaf hatte Marrazzo ebenfalls nicht am Kanzleiufer getroffen. Er bestritt nicht, den Namen aus seiner Arbeit zu kennen. „Ich wollte aber auch mal bei ihm essen.“ Zum Todeszeitpunkt hätte er am Rathaus gestanden. „Ich hörte dieses wunderbare Glockenspiel, das war einzigartig.“
Gianni Corleone war wütend: Er werde nur verdächtigt, weil er Italiener sei. Und wenn er als Sizilianer einen Sizilianer ermorden würde, dann bestimmt nicht mit einer Kugel, sondern mit der sizilianischen Kravatte, bei der das Opfer. . . Blickle unterbrach die folkloristischen Ausführungen und fragte nach dem Alibi. „Ich war die ganze Zeit bei der Führung und habe zum Beispiel von der Astronomischen Uhr gehört. Marrazzo hätte ich später im Accanto gesehen und ihm gesagt, dass ich ihm nichts nachtrage. Er ist ein Ehrenmann, wie ich auch.“ Schnell schaute ihren Chef an, der stutzte kurz, dann machte es bei ihm Klick – und Klick machten die Handschellen. Bei wem? Und warum? Foto: bul