Viel historische Substanz erhalten

Vor 75 Jahren wurde Plochingen zur Stadt erhoben – Nicht alle ins Auge gefassten Großprojekte wurden umgesetzt

Vor 75 Jahren waren in Plochingen weder der Stumpenhof noch die Lettenäcker bebaut, auch die Halbhöhenlage war von Streuobstwiesen geprägt. Doch es wurde eifrig gebaut und die Bevölkerung wuchs durch den Zuzug von Heimatvertriebenen und durch hohe Geburtenzahlen rapide. 8500 Einwohner waren es damals, Prognosen gingen von späteren 20 000 aus. Vor diesem Hintergrund strebte der damalige Bürgermeister August Schöck mit dem Segen des Gemeinderats die Ernennung zur Stadt an. Was für ihn ein Herzensanliegen war, ließ die Bevölkerung in der Nachkriegszeit ziemlich kalt. „Die hat andere Sorgen gehabt“, sagt der Lokalhistoriker Joachim Hahn. Trotzdem waren die Bürgerinnen und Bürger zur Erhebungsfeier im Hotel Henzler am 5. Juni 1948 eingeladen.
Joachim Hahn hat zusammen mit Dagmar Bluthardt, Susanne Martin vom Kulturamt der Stadt und zahlreichen Unterstützern („Fast 100 Leute haben mitgeschafft“) ein Buch verfasst, das die Geschichte seit der Stadterhebung skizziert. Knapp über 400 Seiten hat das Werk und hätte, so das Autorenteam, problemlos doppelt so dick werden können. Denn im vergangenen Dreivierteljahrhundert ist eine Menge passiert. „Das heutige Stadtbild resultiert überwiegend aus dieser Zeit“, sagt Susanne Martin.
Der Stumpenhof war Ende der 1940er-Jahre bereits in Planung, 1953 entstanden die ersten Häuser. Der Neckarhafen wurde 1968 eingeweiht, aus heutiger Sicht etwas überdimensioniert, weil damals noch die Absicht bestand, von Plochingen einen Kanal bis nach Ulm an die Donau zu bauen. Aus dem gigantischen Vorhaben wurde jedoch nichts, worüber man rückblickend eher froh ist. Ähnliches gilt fürs heutige Hundertwasserareal: Auf dieser zentral gelegenen Fläche war Anfang der 70er ein 14-geschossiges Geschäftshochhaus geplant. Das Projekt der Baugesellschaft Bawi wurde Mitte des Jahrzehnts aus wirtschaftlichen Gründen wieder aufgegeben. Auf einem Teil des Grundstücks entstanden die Kreissparkasse und das noch immer bestehende Einkaufszentrum. Die Restfläche hat dann in den 80er-Jahren Bürgermeister Eugen Beck mit einer visionären Idee und Beharrlichkeit zum Hundertwasserhaus weiterentwickelt.
Beck hatte bereits bei der Umgestaltung der Innenstadt Weitblick und Mut bewiesen. Heute schaut man staunend auf die alten Fotos: Es ist kaum mehr vorstellbar, dass sich einst der Autoverkehr durch die jetzige Fußgängerzone wälzte. Unten am Fischbrunnen liefen die Verkehrsströme aus allen Richtungen zusammen, und am heutigen Standort des Alten Rathauses – es wurde aus der Neckarstraße dorthin versetzt – war ebenfalls eine große Verkehrskreuzung. Dabei habe Beck immer das Ziel verfolgt, möglichst viel historische Substanz zu erhalten, sagt Susanne Martin.
„Es war immer wieder spannend zu sehen, was gemacht wurde und was geblieben ist“, sagt Joachim Hahn über die Recherchen. Die vielen Stunden in Archiven haben einige Aha-Erlebnisse beschert, die im Buch mit Fotos derselben Ansichten, einst und heute, dokumentiert sind. Diese spannenden Gegenüberstellungen findet man auch in der „Future History App“ fürs Smartphone: An momentan 23 hinterlegten Punkten in der Stadt kann man damit historische und aktuelle Ansichten vergleichen. Ebenso wandelt eine neue Stadtführung auf den Spuren der vergangenen 75 Jahre. Als „bemerkenswert“ stuft Frank Buß ein, dass er selbst erst der vierte Bürgermeister in diesen 75 Jahren ist.
Die 20 000 erwarteten Einwohner hat die Stadt übrigens niemals auch nur annähernd erreicht. Das war nicht nur in Plochingen so, die Verhütungspille und der wachsende Wohlstand haben alle Bevölkerungsprognosen ausgehebelt. Bei der Kreisreform im Jahr 1973 soll zumindest kurzzeitig der Gedanke aufgekommen sein, dass Esslingen sich als Stadtkreis herauslöst – dann wäre womöglich Plochingen als damals größte Stadt im Altkreis Esslingen Kreisstadt geworden. „Die Überlegung gab’s, aber wie weit sie vertieft wurde, wissen wir nicht“, sagt Joachim Hahn.

aia / Foto: privat


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