Gar nicht politikmüde: Jugendliche formulieren bei einer Konferenz im Landratsamt ihre Forderungen und Thesen
Von wegen Jugendliche interessieren sich nicht für Politik. Wer das behauptet, konnte sich vergangene Woche bei der Kreisjugendkonferenz „Meet & Greet“ eines Besseren belehren lassen: Mehr als 180 junge Menschen im Alter von 13 bis 20 Jahren diskutierten im Sitzungssaal des Landratsamts stundenlang miteinander und mit Politikern. Vier Delegierte werden die gesammelten Forderungen und Fragen im November mit zum Jugendlandtag nach Stuttgart nehmen.
Das Themenspektrum war enorm, von freiem WLAN und „Mehr Plätzen zum Chillen“ über die Grundschulempfehlung – deren verpflichtende Einführung sich manche der Teilnehmer wieder wünschen würden – bis hin zu überfüllten Bussen. Die jungen Leute vertraten ihre Meinung und argumentierten selbstbewusst, ganz egal, von welcher Schulart sie kamen. Von der Rohräckerschule als Förderschule über viele Gymnasiasten bis hin zu Auszubildenden war das ganze Spektrum vertreten. Teilnehmen konnten alle Interessierten der genannten Altersgruppe.
In acht jeweils zwei Mal stattfindenden Workshops am Vormittag wurden einzelne Themen vertieft, am intensivsten da, wo die Teilnehmer selbst besonders betroffen sind – etwa im Workshop „Mobil im Landkreis“ oder „Schule-Ausbildung-Beruf“. Auf den Übergang von der Schule ins Berufsleben seien sie schlecht vorbereitet, klagten viele, insbesondere die Gymnasiasten: Man habe gar nicht die Zeit, über eigene Stärken und Schwächen nachzudenken, denn vor allem das achtjährige Gymnasium sei extrem leistungsorientiert. Praktika seien zu kurz und oft schlecht angelegt, sodass sie nicht weiterbrächten. Mehr und bessere Praktika war deshalb eine Forderung, die formuliert wurde, „weniger Gedichtinterpretation, mehr Informatik, Steuererklärung und Wirtschaft“ lautete eine der später im Plenum vorgetragenen Thesen.
Aber auch Chancengleichheit kam immer wieder zur Sprache: Studiengebühren abschaffen, Bafög für alle, bessere Bezahlung im Freiwilligen Sozialen Jahr und in manchen Ausbildungsberufen. „Wie kann es sein, dass ausgerechnet so wichtige Berufe wie Physiotherapeuten oder Ergotherapeuten für ihre Ausbildung auch noch bezahlen müssen?“, fragte Nina, die diese Frage später auch an die Adresse der Politiker richtete. Ebenso ging es um den Numerus clausus, den die Jugendlichen als wenig sinnvoll und ungerecht einstuften.
Schon beim Sammeln der Fragen in den Workshops kamen immer wieder Diskussionen auf. Eine knappe Stunde dafür war beinahe zu kurz. „Das ist zu wenig Zeit, um sich mit so schwierigen Themen ausführlicher zu befassen“, sagte Kalle nach dem Workshop „Umwelt“. Schwierig sei auch gewesen, dass die Teilnehmer beim Alter und damit auch beim Kenntnisstand weit auseinander lagen, stellte der 20-Jährige fest. Trotzdem bewertete er die Konferenz positiv: „Ich freu mich drauf, mich mit den Politikern zu unterhalten.“
Lucina (16) kam sehr zufrieden aus dem Workshop „Mobilität“. Man habe schnell eine einheitliche Stoßrichtung gefunden, sagte sie. Bei ihrem zweiten Workshop „Ausbildung“ fand sie mit ihrem Anliegen dagegen kein Gehör. Als Waldorfschülerin sprach sie die Problematik der Finanzierung privater Schulen an und empfand die Reaktion der Runde als abweisend oder sogar „hämisch“. Das sei schade, denn ihre Schule könne gerade bei praktischen Tätigkeiten und Berufsorientierung als Modell dienen, findet die Schülerin.
Die im Plenum vorgetragenen Thesen reichten von dem Wunsch, dass Jugendliche mehr Öffentlichkeit bekommen und auf Augenhöhe wahrgenommen werden, bis zur Feststellung „die Schule klaut uns zu viel Freizeit“. Auch der Themenkreis „Zusammenhalt in der Gesellschaft“ hatte großen Zulauf. Die größer werdende Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland kam dabei ebenso zur Sprache wie die Integration von Flüchtlingen. Unterm Schlagwort Digitalisierung forderten die Jugendlichen nicht nur mehr freies WLAN und den Breitbandausbau, sondern auch eine Schulung ihrer Lehrer. „Die meisten Lehrer haben von der Technik keine Ahnung“, so ihre lapidare Feststellung. Sie setzten sich für ein bundesweit einheitliches Bildungssystem ein und ließen sich auch vom Hinweis der Politiker auf gesetzliche Vorgaben nicht beirren.
Die Vertreter der Politik stießen nach dem Mittagessen zur Jugendkonferenz. Eingeladen waren die Landtagsabgeordneten des Wahlkreises Esslingen sowie die Kreisräte. Sie nutzten mit 14 Vertretern quer durch die Fraktionen die Möglichkeit zum direkten Kontakt und trafen auf argumentationsstarke Jugendliche, die ihnen manchen Denkanstoß mit auf den Weg gaben. „Wie wollen Sie junge Leute einbeziehen, wenn es um die Reform des Schulsystems geht?“, frage Meret (19), die Mitglied eines Vereins (Demokratische Stimme der Jugend) ist, der das Schulsystem verbessern möchte und am 11. November in Stuttgart zu einer Demo einlädt. Die Bemerkung, dass Jugendliche bei solchen Fragen stark von ihrem Umfeld beeinflusst seien, konterte eine Teilnehmerin mit der Frage: „Wer gibt dann Ihnen das Recht zu entscheiden?“ Auch das Wahlrecht ab 16 oder sogar 14 wurde angesprochen.
Die Fragen und Forderungen der Konferenz sollen nicht nur über den Jugendlandtag, sondern auch direkt über die politischen Vertreter weitergetragen werden. Zumindest Lija und Carolin aus Nürtingen hatten am Ende den Eindruck, dass sie dabei Gehör gefunden haben. „Wir konnten uns gut austauschen und sind auch zu Wort gekommen“, sagten sie. Die Politiker seien auf sie eingegangen „und haben uns ausreden lassen.“ aia / Foto: aia
Info: „Was uns bewegt“ heißt das Projekt des Landtags, das Jugendliche und Landespolitiker miteinander ins Gespräch bringen möchte: zunächst auf lokaler und regionaler Ebene, was im Landkreis Esslingen das Kreisjugendreferat organisiert hat. Am 7. und 8. November findet dann der Jugendlandtag Baden-Württemberg mit 125 Jugendlichen aus dem ganzen Land und Vertretern aus der Politik statt.