Wenn die Angst vor Corona krank macht

Dringend notwendige Behandlungen werden auf die lange Bank geschoben – Kliniken und Ärzte warnen vor den Folgen 

Die gute Nachricht lautet: Corona ist für die Krankenhäuser und die Ärzteschaft im Landkreis Esslingen nur noch ein untergeordnetes Thema. „Das Virus  macht uns keine Probleme mehr. Wir sind auf der sicheren Seite. Unsere Häuser sind in vollem Umfang leistungsfähig“, sagten Matthias Ziegler, der Geschäftsführer des Klinikums Esslingen, und sein für die Medius Kliniken im Landkreis zuständiger Kollege, Sebastian Krupp, bei einer Pressekonferenz Mitte Juli wie aus einem Mund. Aber auch bei der schlechten Nachricht sind sich die beiden Klinikchefs einig: Weil die Menschen aus Angst vor der Ansteckung durch das Virus immer noch einen großen Bogen um die Krankenhäuser und Arztpraxen machen, droht dem Gesundheitssystem die Welle nach der Welle.

Um die Befürchtungen nicht Wahrheit werden zu lassen, gehen die Kliniken  im Schulterschluss mit der Kreisärzteschaft in die Offensive. Mit Zeitungsanzeigen, großflächigen Plakaten und Kampagnen in den Sozialen Medien sollen die Menschen in der Region Esslingen für das Thema sensibilisiert werden. Plakativen Botschaften wie „Schicken Sie Ihre Gesundheit nicht in den Lockdown“ und „Lassen Sie sich testen, auch auf Herz und Nieren“  appellieren an das Verantwortungsbewusstsein aller Noch-Nicht-Patienten,  rechtzeitig die angebotenen Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen  oder sich beim Auftreten von Krankheitssymptomen unverzüglich  in ärztliche Behandlung zu begeben.  Die  sollen alsbald überall im Landkreis zu sehen sein. Parallel dazu sollen in den Arztpraxen Broschüren zu dem Thema ausgelegt werden.

„Wir erleben gerade im Praxisalltag immer häufiger, dass Patienten  nach wie vor aus Angst vor einer Infektion auch dringend notwendige medizinische Eingriffe in der Klinik scheuen und stattdessen lieber starke Einschränkungen und Nebenwirkungen durch Schmerzmittel in Kauf nehmen“, sagt Wolf-Peter Miehe, der Vorsitzende der Kreisärzteschaft Nürtingen. Als Beispiel aus seiner eigenen  Praxis in Weilheim führt Miehe den Fall eines Patienten an,   der mit einem laufenden Herzinfarkt drei Tage auf der Terrasse gesessen und nach Luft geschnappt habe, bevor er den Arzt aufsuchte. „Jetzt muss er mit Einschränkungen wegen einer vermeidbaren Herzinfarktnarbe weiterleben“, sagt Miehe.  Eine Patientin habe ihre durch eine Hüftarthrose hervorgerufenen Schmerzen so lange mit Schmerztabletten unterdrückt, bis sie schließlich mit einem Magendurchbruch doch ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.

Alarmierende Zahlen

Die Praxisbeispiele  schlagen sich auch in der Statistik der Krankenkassen nieder. So stellt die AOK deutschlandweit einen Rückgang der Krebsdiagnosen um 20 Prozent fest. Auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die Zahlen alarmierend: Die stationäre Behandlung von Schlaganfällen ging  deutschlandweit um 19 Prozent zurück, die von Herzinfarkten gar um 31 Prozent.   Nachdem im  Corona-Jahr zudem hunderttausende von  Vorsorgeuntersuchungen abgesagt worden waren, sehen die Fachleute schon eine  Bugwelle an Nachfolgekrankheiten auf das Gesundheitssystem zurollen.

„Krebs und viele anderen Krankheiten machen keine Pause“, sagt Stefan Krämer, der Ärztliche Direktor und Chefarzt für diagnostische und interventionelle Radiologie und Nuklearmedizin am städtischen Klinikum Esslingen. Seiner Erfahrung zufolge  dient die Furcht vor einer Ansteckung häufig auch nur als willkommene Ausrede, um sich einer möglicherweise ungünstigen Diagnose nicht stellen zu müssen.    „Wir wollen mit unserer Kampagne die Menschen aufrütteln und die Corona-Ausrede aus den Köpfen bekommen“, sagt er.

Die unheilvolle Allianz zwischen vorgeschobener   Corona-Furcht und der Angst vor der Wahrheit treibt  auch Krämers Kollegen Bodo Klump die Sorgenfalten auf die Stirn. Gerade Männer, die ohnehin als Vorsorgemuffel gelten, nutzten die Corona-Ausrede, um sich vor einer Untersuchung zu drücken.   Unisono beteuern die Mediziner, dass es nicht die Sorge um die Krankenhausfinanzen seien, die sie zu der Kampagne veranlasst hätten, sondern ausschließlich die Sorge um das Wohl der Menschen.

Thomas Schoradt / Foto: Ines Rudel


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