Wo der Dichter Weltliteratur schuf

In Nürtingen ist das neue Hölderlinhaus eröffnet worden – Moderne Schau – Bildungsort beherbergt weitere Angebote

Es ist vollbracht. Mit Verspätung hat Nürtingen endlich die neue Dauerausstellung „Möcht’ ich ein Komet sein? Hölderlins Bildungswege und Nürtingen“ im Hölderlinhaus eröffnet, in dem der große deutsche Dichter Weltliteratur geschaffen hat. Jahrelang war in der Stadt um die Gestaltung des Hauses gerungen worden – und dann kam auch noch Corona in die Quere. Der 250. Geburtstag des Dichters 2020 verstrich – nun soll der 180. Todestag als Jubiläum herhalten.
Gefeiert wurde vergangenes Wochenende mit Tagen der offenen Tür und zuvor bei einem Festakt, zu dem auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann zugegen war. Eröffnet wurden im Hölderlinhaus auch die neuen Räume für Volkshochschule, Kulturamt sowie Musik- und Jugendkunstschule, die mit der nahen Schlossbergschule das Bildungszentrum am Schlossberg komplettieren. Nürtingens Oberbürgermeister Johannes Fridrich bezeichnete das Hölderlinhaus samt dem historischen Gewölbekeller als Schmuckstück.
Literarisch Interessierte können bald in der Beletage des Hauses auf Friedrich Hölderlins Spuren wandeln, Faksimiles und ihre Transkriptionen studieren, eine Hörstation nutzen und ein Youtube-Video von Michael Sommer genießen, in dem Playmobilfiguren in neun Minuten „Hyperion to go“ nachspielen. Die Rede ist dabei von Hölderlins Roman „Hyperion“, der als Bildungsroman verstanden wird, aber auch die Erfahrung des Scheiterns thematisiert.
Kuratiert und konzipiert wurde die Schau von den renommierten Münsteraner Ausstellungsmachern von BOK und Gärtner. Einfach und raffiniert zugleich präsentiert die neue Dauerausstellung eine moderne Interpretation des Erinnerungsorts, der Hölderlin als feinsinnigen Poeten, unabhängigen Freigeist und Lehrer sowie als Anhänger republikanischer Ideale ausweist.
Durchscheinende Wände aus einer textilen Bespannung dienen als ästhetischer Kunstgriff, mit der die Schau Hölderlins Weitblick über die Beschränktheit der heimischen Mauern hinaus trefflich andeutet. Einen Kontrapunkt bilden elegante Schulpulte, die Schriften und Bilder zeigen und an die 200-jährige Geschichte des Hauses als Bildungsstätte erinnern. Die Transparenz zeigt auch den räumlichen Zuschnitt der Wohnung, in der die Familie Hölderlin-Gok ab 1774 zu Hause war. Aber nur die nördliche Hälfte der Wohnung dient als Erinnerungsort. Wo früher Küche, Speisekammer und Gesindetrakt waren, befinden sich heute Büros. In der Wohnung am Schlossberg verbrachte der Dichter seine Kindheit und Jugend und kehrte als Erwachsener immer wieder zurück.
Thomas Schmidt, der am Deutschen Literaturarchiv Marbach die Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg leitet, spricht von einer Rehabilitierung, die Hölderlin nun nicht nur in Nürtingen widerfährt. Mit dem Hölderlinhaus erhalte der Dichter postum die Anerkennung, die ihm zu Lebzeiten nicht vergönnt gewesen sei. Bis heute ist übrigens die literaturwissenschaftliche Analyse seines Werks nicht abgeschlossen. Die Interpretation seines Sprachgenies werde immer wieder neu herausgefordert, erklärt dazu die Tübinger Hölderlin-Gesellschaft. Nürtingen komplettiert mit dem Erinnerungsort das Kleeblatt der vier literarischen Orte, die im Ländle mit dem Namen Friedrich Hölderlin in Verbindung stehen.
Neben Nürtingen handelt es sich um das Geburtshaus des Dichters in Lauffen am Neckar, die Klosterschule in Maulbronn und den Hölderlinturm in Tübingen. Während Lauffen und Tübingen den runden Geburtstag des Dichters 2020 nutzen konnten, um die Erinnerungsarbeit aufzupolieren, dauerten die Vorbereitungen in Nürtingen um einiges länger.
Um die Zukunft des Gebäudes gab es mehr als zehn Jahre lang ein zähes Ringen. Zunächst sollte das Hölderlinhaus durch einen Neubau ersetzt werden. Dagegen formierte sich aber Widerstand in der Bevölkerung. Der Bauhistoriker Johannes Gromer entdeckte schließlich, dass trotz zahlreicher Umbauten an dem Gebäude deutlich mehr Originalsubstanz vorhanden war als gedacht, und so wurden die Abrisspläne auf Eis gelegt. Schließlich kam es zum ebenfalls kritisierten Teilabriss, bei dem lediglich der Keller sowie die Nord- und Ostfassade erhalten wurden, was große statische Herausforderungen mit sich brachte. Alte Handwerkstechniken beim Bau des Walmdachs, das die Formen der barocken Nachbarhäuser aufnimmt, waren genauso gefragt wie das Ausschachten von Hand, erklärte Eckart Krüger, Projektleiter bei der Gebäudewirtschaft Nürtingen.

Info: Die Kostenschätzung von 5,4 Millionen Euro vom Mai 2019 wurde nach einer ersten Berechnung auf sieben Millionen Euro korrigiert. Die Verantwortlichen gehen inzwischen von 9,8 Millionen Euro Baukosten aus. Immerhin stiegen auch die Zuschüsse von Land und Bund auf zusammen 4,6 Millionen Euro. Die Ausstellung kostet 344 000 Euro, dafür kommen 90 000 Euro vom Deutschen Literaturarchiv Marbach. Die Außenanlagen für 750 000 Euro werden mit 300 000 Euro gefördert.

com / Foto: Horst Rudel


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